Ich hab da so ’nen Film gesehen. Drei Tage lang. Einen Film, den es noch gar nicht gibt. Einen Film, der nur ca. 15 Minuten lang und wahrscheinlich nie im Fernsehen zu sehen ist. Wie ich dazu gekommen bin, erstaunt mich selbst immer noch ein bisschen.
Rückblende: Wer sich schon mal auf dieser meiner Seite rumgetrieben hat, der weiß, dass ich da an „so ’nem Projekt“ beteiligt bin. Gesichter Bonns heißt es, ist eine fotografische Idee und Herzensangelegenheit meiner Freundin Bea und macht uns ’ne Menge Spaß. Viel mehr dazu ist an dieser Stelle auch unwichtig. Außer vielleicht dass der Fernseh- und Theaterschauspieler Hanno Friedrich auch Teil des Projektes ist, denn: Er wohnt in Bonn(-Beuel).
Und weil Hanno nicht nur ein netter Kerl, sondern auch ein Macher ist, hat er etwa zu diesem Zeitpunkt angefangen, ein Kurzfilmprojekt zu crowdfunden, oder besser: von der crowd funden zu lassen (KOMMA erfolgreich).
Bea und ich dachten sofort: Tolle Sache, unterstützen wir! Also wurden wir erst „Filmproduzenten“/“Teilhaber“, in dem wir spendeten und rührten dazu noch im digitalen Freundeskreis kräftig die Werbetrommel für Hannos Filmidee.
Als dann auch noch ein „Set-Runner“ für den Dreh gesucht wurde, wusste ich zwar nicht, was das überhaupt ist. Weil ich aber irgendwie helfen wollte und außerdem als Videographie-Autodidakt die Chance erkannte, mal bei einer professionellen Filmproduktion dabei sein zu können, schrie ich „Hier!“. Ende Rückblende.
Setfoto, Endlich allein – aber wer ist dieser Unbekannte?
Um mal wieder auf den Film zurückzukommen, der zwar jetzt abgedreht, aber noch lang nicht fertig ist: In ihm geht es um ein Paar, das gemeinsam in den Urlaub fliegen möchte. Sie (gespielt von Saralisa Volm), Karriereweibchen und toughe Businessfrau. Und Er (gespielt von Hanno Friedrich), Lebenskünstler und freiberuflicher sich-durchs-Leben-Wurschtler. Dazu noch der Bürokollege des Karriereweibchens (gespielt von Frank Streffing), der in ihrer Abwesenheit die Agenturgeschäfte weiter führen soll.
Ich will nicht zu viel verraten, aber: Es wird ein subtiler Kurz-Psychothriller mit Anleihen aus dem Horrorfilm und einer interessanten Auflösung bei gleichzeitig offenem, aber nicht grade glücklichem Ende.
Für mich interessant war bei der ganzen Sache auch weniger das Drehbuch, der Cast oder das Genre des Films (auch wenn ich sicher bin, dass es ein guter Film werden wird!), sondern eher die Gelegenheit, mal bei einem „nicht-journalistischen“ Dreh im Weg stehen dabei sein zu können.
Zwar hatte ich vor Drehbeginn mal gegoogelt was ein Set-Runner denn so ist, wusste also in etwa, was da so auf mich zukommen würde. Trotzdem war ich natürlich aufgeregt, als es am Sonntag losging. So viele Leute, die ich nicht kannte, auch wenn die Crew inklusive mir mit 13,5 Mitgliedern (Hannos 10-jähriger Sohn durfte die Klappe halten schlagen) noch recht übersichtlich war. So viele Menschen aus der „Filmwelt“, von denen ich nicht wusste, wie sie sich mir gegenüber als Fremden in dieser Welt verhalten würden.
Um es vorweg zu nehmen: Keiner hat sich mir gegenüber doof verhalten, aber natürlich ist man als Set-Runner eine Art Praktikant und somit Arsch vom Dienst.
Meine Aufgaben konkret waren:
Schauspieler von A nach B fahren (Flughafen, Drehorte etc.)
Für Happa-Happa an den Drehorten sorgen (jetzt weiß ich als Nicht-Kaffetrinker auch, wie man mit einer French Press umgeht)
Happa-Happa kaufen bzw. beim Caterer abholen (auch von mir noch mal ein dickes Danke an’s Gesindehaus in Bonn-Poppelsdorf)
Als Licht-Double zur Verfügung sitzen, stehen, liegen
Für Ruhe an den Drehorten sorgen und Schaulustige beim Dreh in Schach halten
Kisten, Koffer, Kästen schleppen
Glasflächen putzen (kein Scheiß)
Aufräumen (ich hoffe, die Jungs und Mädels vom Top Magazin Bonn sind zufrieden mit meiner Wiederherstellung des Drehortes 😀
Ab und an mal ne Klappe schlagen
Und hauptsächlich: Einfach für alles zur Verfügung stehen
Insgesamt bedeutet das: Viel warten und da sein. Nicht immer konnte ich mich in diesen drei Tagen nützlich machen, denn das Team war eingespielt und die Sets teilweise sehr eng, so dass ich auch wusste, wann ich mich zurück zu ziehen hatte. Trotzdem war ich natürlich immer da, wenn ich gebraucht wurde und mir auch für keinen Auftrag zu schade. Kurzum: Ich denke, ich habe den Job für einen Anfänger ganz gut gemacht.
Sieht nach Polizeiroboter bei der Sprengung eines Gepäckstücks aus – ist aber ne Kamera.
Dadurch, dass ich während des Drehs meist auf stand-by war, hatte ich oft Gelegenheit mit der Crew zu schnacken. So lernte ich den Tonmann kennen, der bei Stromberg (TV und Film) auch als Nebendarsteller am Start war. Oder den Setfotografen, der extra aus Dortmund angerückt war und genau wie die anderen ohne Gage (was aber für alle vorher klar war) und nur für den „Ruhm“ arbeitete. Oder die Visagistin, die am letzten Drehtag mit ihrer deutschen Dogge „Pepper“ zum Set kam und in die ich mich unsterblich verliebt habe (in die Dogge meine ich jetzt).
Dauerbeschäftigt waren Schauspieler, Regie, Kameraleute und vor allem die Beleuchter, die Lichtsituationen geschaffen haben, von denen ich als one-man-band Videograph nur feucht träumen kann. Irre, wie da alle Zahnräder des gesamten Teams ineinander gegriffen haben! Und irre, wie lang es beim Film dauert, bis gedreht werden kann und wenige Filmsekunden im Kasten sind (zur Erinnerung: 15 Minuten Kurzfilm, drei Drehtage).
Für mich als „brotlosen Journalisten“ war es auch nett, mich mit andren Kreativen austauschen zu können, die ebenfalls als Freiberufler ein ähnliches Leben in Freiheit bei gleichzeitiger finanzieller Ungewissheit führen.
Mein kleiner Ausflug in die Filmwelt war unterm Strich sehr spannend, mit sehr viel Warten und Zeiteinsatz verbunden, hat mir aber auch Kontakte in diverse Filmbereiche beschert – und man weiß ja nie, wofür’s mal gut ist 😉
Es soll ja Menschen geben, die von ihrem Job nicht ausgelastet sind. Oder nicht erfüllt. Oder gar unglücklich, mit dem was sie tun. Oder alles zusammen. Im Idealfall suchen diese Menschen sich dann eine Art Kompensationshandlung. Malen, sammeln Briefmarken, gehen in den Puff oder schaffen sich einen Hund an. Im schlimmsten Fall resignieren sie und werden faul und frustriert.
Es gibt aber auch Menschen, die sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem, was sie beruflich machen. Und trotzdem machen sie nach Feierabend was völlig anderes. Sozusagen als Kontrastprogramm. Als Ausgleich. Zur Entspannung.
Meine Freundin fotografiert. Als Ausgleich. Eigentlich verdient sie als Wirtschaftsinformatikerin ihr Geld. Was sie da genau macht, weiß ich bis heute nicht so recht. Es liegt nicht daran, dass es mich nicht interessieren würde – denn das tut es, ich habe sie auch schon oft genug danach gefragt. Und sie hat es auch jedes Mal beantwortet. Dass ich es nicht so genau weiß liegt wohl eher daran, dass ich es einfach nicht kapiere. Ist halt nicht so meine Welt. Zahlen. Informatik. Wirtschaft.
Was ich gut kapiere, ist das mit der Fotografie. Das macht sie schon lange und sie macht das mittlerweile auch verdammt gut (nicht, dass es mal schlecht war, aber sie wird immer besser und besser). Portraits, Hochzeitsreportagen, Bewerbungsbilder, Akt – in jedem Fall Menschen, bloß keine Stillleben. Ok, auch gerne mal ein Hund oder ein süßes Küken. Das alles kann man auf ihrer Homepage bewundern.
Da sie ihre Fotografie als Nebenberuf mit Steuernummer und Eintrag bei der Handwerkskammer sehr seriös betreibt, hab ich mich irgendwann gefragt: Ist das noch der Ausgleich zur eigentlichen Arbeit oder schon ein zweiter Job? Ist das also noch Spaß oder Ernst?
Fotografin am „Tatort“ ihres Projekts
Vielleicht hat sie sich das selber auch gefragt, denn seit einiger Zeit hat sie sich mit der Idee zu einem Projekt getragen, dass sie irgendwann mal ausstellen will. So richtig in einer Galerie, mit Bilderrahmen an der Wand, mit Vernissage, Sekt und Häppchen, Küsschen links, Küsschen rechts, Artikel in der Zeitung und so. Ich muss gestehen: Eine Zeitlang habe ich nicht mehr dran geglaubt, dass aus dem Traum Realität wird, dass sie es wirklich tut. Denn zwei Jobs sind ja eigentlich genug. Dann noch ein weiteres Fotoprojekt, an dem sie kein Geld verdient? Willst Du das wirklich, Bea?
Ja, sie wollte und tat es auch: Ihr nicht-kommerzielles Fotoprojekt, dass zwar Zeit kostet, dafür aber kein Geld bringt, ist Wirklichkeit geworden. Gesichter Bonns heißt es. Es gibt es bei twitter, facebook, youtube, als App und seit kurzem auch bei tumblr. Wo nimmt sie die Zeit dafür her?
Es muss daran liegen, dass sie es will. Dass es ein Herzensprojekt ist. Etwas, was sie tun möchte. Und wenn man den Wunsch hat etwas zu machen, etwas zu ändern, etwas Neues zu schaffen – dann sollte man es ganz einfach tun. Klingt bestechend einfach, trotzdem gelingt es den wenigsten. Einfach mal auf’s Herz hören und tun, was man für richtig hält.
In ihrem Fall ist das eine Liebeserklärung an die Stadt, in der wir mittlerweile zusammen leben: Bonn. Ihr Ziel: Die Vielfältigkeit Bonns zu zeigen. Anhand der Menschen, der Gesichter, die hier wohnen, leben, arbeiten. Ein Studiobild, schwarz-weiß. Ein Bild am Lieblingsort der Person, in Farbe. Eine Kombination aus intimer Nähe zu einem Mitbürger und der Stadt, die ihn umgibt. Lokal, persönlich, interessant. Was schätzen die Bonner an ihrer Stadt? Was hat sie hier her verschlagen? Was ist für sie Bonn? Wo fühlen sie sich wohl? Und vor allem: Warum? Aber vielleicht kann Bea das viel besser erklären als ich. Sie hat es jedenfalls sehr schön in einem Fotografie-Blog gemacht, bei kwerfeldein.
Was seither geschehen ist, ist verblüffend. Wir beide wachsen an diesem Projekt. Machen interessante Bekanntschaften, lernen auch die eigene Stadt noch einmal anders kennen. Denn ich bin längst Teil des Projekts. Nicht nur als dankbares Opfer zum Licht-Einstellen, wenn aus unserem Wohnzimmer wieder mal das Fotostudio wird. Ich war auch das erste Gesicht Bonns, denn man brauchte ja auch eine Vorlage, um andere von der Idee zu überzeugen, als noch keiner mitgemacht hatte. Bei den meisten Shootings bin ich außerdem dabei. Das war ich auch vor dem Projekt schon recht regelmäßig. Aber irgendwie hat dieses nicht-kommerzielle Unternehmen eine andere Qualität des Freiwilligendienstes.
Nach Jahren des passiven Konsums das erste eigene Video auf youtube. Natürlich was mit Tieren. Die Leute wollen das!
Was haben wir schon alles erlebt: Unser Wohnzimmer war voll mit Gesichtern Bonns. Noch wenige Minuten vorher wildfremde Menschen, von denen man nur durch eine Email und der darin enthaltenen Aussage „Ich will mitmachen bei Deinem Projekt!“ eine vage Vorstellung hatte. Ein Sammeltermin für Studiobilder, denn ein Projekt neben Job und Nebenjob will gut organisiert sein. Geplant war, dass jeder Teilnehmer fotografiert wird und dann wieder geht. Nicht aus mangelnder Gastfreundschaft, sondern aus Effektivitätsgründen. Rund 10 Leute, die nicht nur die Gastgeber nicht kannten, sondern sich auch untereinander noch nie gesehen hatten, blieben aber einfach da. Volle Hütte, gute Laune, eine Gemeinsamkeit: Die Liebe zu Bonn. Ich muss gestehen, dass ich damals einen Moment lang mit dem Gedanken gespielt habe, einen Kasten Bier ins Wohnzimmer zu stellen, so sehr hatte dieser Fototermin die Dynamik einer guten WG-Fete angenommen.
Nicht weniger nett und umgänglich waren bisher auch die so genannten Promis, von denen es in Bonn tatsächlich auch ein paar gibt. Ein Nachmittag mit Bernhard Hoecker gehörte ebenso dazu wie ein Treffen mit dem „Alle-mal-malen-Mann“ oder anderen so genannten Kulturschaffenden Bonns. Und wenn ich so drüber nachdenke, dann steht das gesamte Projekt – trotz allem was wir schon damit erlebt haben – immer noch ziemlich am Anfang. Ohne zu viel verraten zu wollen: Da kommen noch ein paar Knaller, keine Sorge!
Was ich für mich außerdem feststelle: Ich habe den Traum meiner Freundin genutzt, um selber Dinge in die Tat umzusetzen, die mich unbewusst schon länger umgetrieben haben. Ich als Journalist konnte bisher „nur“ texten und Geschichten im Radio erzählen. Die Gesichter Bonns habe ich nun endlich dazu genutzt, mich ans Bewegtbild ranzuwagen. Wollte ich schon irgendwie seit längerem, aber ich war dann doch immer irgendwie zu bequem, mich auf Neuland zu wagen. Beas Projekt hat mich also nun dazu bewogen, youtube nicht mehr so zu nutzen wie 90 Prozent der User, also die Plattform nur passiv als Abspielstation zu konsumieren, sondern selber mal Content zu produzieren! Ist sicher noch ausbaufähig, aber hey: Horizont erweitert.
Vielleicht sind Träume also ansteckend. Und vielleicht sollte man diese Infektion einfach zulassen. Denn Wachstum zieht neues Wachstum nach sich.
Mein erstes „professionelles“ Video. Darauf lässt sich aufbauen! 😉
„B.o.n.n. – Bundesstadt ohne nennenswertes Nachtleben.“
„Das schönste am Bonner Wochenende ist Köln.“
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Solche Vorurteile ist man gewohnt hier in Bonn. Wir, die wir hier leben, kennen sie alle. Bonn, die Provinz. Bonn, das Bundesdorf, in dem nix los ist. Das war zu Hauptstadtzeiten schon so und es hat sich erst recht seit dem Wegzug der Regierung nicht geändert. Die beiden Zitate von oben habe ich besonders oft während meines Studiums gehört. Damals, als man noch feiern ging. Alle, die in Köln wohnten, ließen sich nie dazu erbarmen mal zum Feiern oder „einen trinken gehen“ nach Bonn zu kommen, erwarteten aber im Gegenzug, dass – wenn gefeiert oder getrunken wurde – dies stets in Köln zu geschehen hatte.
Entweder nimmt mit zunehmendem Alter bei mir die regionale Identifikation zu oder Bonn ist in den letzten Jahren wirklich bunter und kulturell vielfältiger geworden. Jedenfalls empfinde ich Bonn persönlich schon länger nicht mehr als so provinziell, wie es mir zu Studienzeiten tatsächlich einmal vorkam. In Bonn gibt es mittlerweile viele junge und kreative Köpfe, die das kulturelle Angebot erweitern und vervielfältigen.
Trotzdem gibt es gewisse avantgardistische Bereiche, die man nicht automatisch mit Bonn verbindet und (auch als Journalist) erst einmal in Köln vermutet, wenn man in der Umgebung danach sucht. Die Streetart ist da so ein Beispiel.
Dabei gibt es in Bonn zwei phantastische Vertreter dieser Kunst: dropix und 1zwo3. Ich weiß gar nicht wann und wie ich über die beiden gestolpert bin. Vielleicht hab ich einen der beiden bei facebook gesehen, vielleicht hab ich ihre kreativen Ergüsse auch da erblickt, wo sie wahrgenommen werden wollen: Auf der Straße.
Ich weiß nur, dass ich die Kunstform, die beide gewählt haben, von Anfang an cool fand: Paste-Ups – das sind sozusagen geklebte Graffiti. Ein Motiv wird erdacht, zu Hause auf eine Art Plakat gemalt und dann irgendwo im Straßenbild mit Kleister an die Wand gebracht. Gegner der Streetart, die auch Graffiti per se als Sachbeschädigung ansehen, könnte man Paste-Ups also vielleicht als „Vandalismus light“ verkaufen. Denn das Gute aus Sicht von Spießern und Kunstbanausen ist: Paste-Ups sind vergänglich und überstehen meist nicht mal einen mittelprächtigen Regenschauer.
Im Sommer habe ich die beiden Paste-Up-Jungs persönlich kennen gelernt. Damals habe ich einen Beitrag zu Paste-Ups für Radio Bonn/Rhein-Sieg gemacht (der Webartikel hierzu ist leider der Neugestaltung der Sender-Website zum Opfer gefallen und hat nur in Screenshot-Form überlebt). Zwar legen dropix und 1zwo3 Wert auf Anonymität, trotzdem kann ich verraten: Beide sind „so um die 30“ und betreiben ihre Street Art sozusagen aus Gründen der Entspannung. Denn beide kommen beruflich aus „Richtung Grafikdesign“ und leben nach Feierabend an Bonns Häuserwänden ihre Kreativität aus, die bei der Alltagsarbeit oft auf der Strecke bleibt (ähnliches tue ich ja mit meinem Blog hier auch, insofern waren mir die beiden gleich sympathisch).
Die Chance, dass man in Bonn an irgendeiner Häuserwand, einem Stromkasten oder einem Brückenpfeiler schon mal ein Paste-Up der beiden gesehen hat, dürften recht hoch sein. Beide verbindet nicht nur die Kunstform Paste-Up, sondern auch Gemeinsamkeiten bei der Motivwahl: Oft stehen nämlich Comic- oder Tierfiguren im Vordergrund und erzählen cartoonartig eine absurde Geschichte. Bei aller Ähnlichkeit gibt es aber einen gravierenden Unterschied: 1zwo3 zeichnet per Hand (Edding), dropix mit digitalen Tools und setzt dabei auch häufiger Farbe ein. Als „Demarkationslinie“ dient den beiden die Oxfordstraße: dropix Motive sind eher in der Altstadt Bonns zu finden, 1zwo3 klebt eher in der Innenstadt oder am Rhein. All das haben mir beide damals gemütlich auf einer kleinen Spielplatzbank (s. Titelbild oben) erzählt.
Mit dabei beim Radiointerview war auch meine Freundin, die sich schon damals sehr intensiv mit ihrem Foto-Projekt Gesichter Bonns auseinander gesetzt hatte. Auf der Suche nach Bonnern, die für die Stadt stehen, schienen die beiden Streetart-Jungs ja tatsächlich bestens geeignet und mittlerweile ist zumindest 1zwo3 schon ein Gesicht Bonns geworden.
1zwo3 hatte außerdem zu dieser Zeit eine Ausstellung in der Fabrik 45, in der er seine Paste-Ups mal nicht im Straßenbild, sondern klassisch im Bilderrahmen zeigen wollte. Natürlich haben meine Freundin und ich uns diese Ausstellung dann angeschaut. In ein Paste-Up, bei dem Mäuse vor einem Fernseher sitzen und Mickey Mouse schauen, habe ich mich damals ein wenig verliebt und mittlerweile hängt dieses Werk neben anderen „echten 1zwo3s“ bei uns in der Wohnung.
Aber auch dropix hat sozusagen Spuren in meinem Leben hinterlassen: Das Logo für diese Website links oben über der Navigation entspringt seiner digitalen Feder und spätestens das hat mich schließlich dazu veranlasst, über Bonns Posterboys zu bloggen. Denn Bonn ist – zumindest was die Streetart-Spielart Paste-Ups angeht – dank dropix und 1zwo3 keine Provinz mehr.
Also, liebe Bonner, aber auch liebe Erdenbürger: Nehmt euch ein Beispiel und tut was! Für euch, eure eigene Kreativität oder gleich für die ganze Kulturlandschaft um euch herum. Den Schlusssatz, den ich extra noch mal aus meinem Audioarchiv gepuhlt habe, überlass ich deshalb dropix: „Ich fänd’s schön, wenn noch mehr Leute den Mut haben würden, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen und das auch mal der Öffentlichkeit zu zeigen!“
Neulich war ich für meinen Brötchengeber auf Reportereinsatz im Bonner Ghetto in Tannenbusch. Der Plot, den es zu berichten gab, war in etwa wie folgt: Jugendliche/Halbstarke/Vandalen/Unbekannte waren durch den Zaun eines noch im Bau befindlichem Spielplatzes/Mehr-Generationen-Parks/heftig subventionierten Vorzeigeprojekts zur Stadtteilentwicklung geschlüpft und hatten Baumaschinen und neu aufgestellten Spielgeräte beschädigt.
Der noch im Bau befindliche Vorzeigeplatz in Bonn-Tannenbusch.
Das war besonders ärgerlich, weil die Stadt sich dieses Projekt rund eine Millionen Euro kosten lässt, um damit ebenjene Problemkids, die mutmaßlich die aktuellen Zerstörungen verursacht haben, von Dummheiten wie Vandalismus abzulenken. Und zwar mit Beschäftigungen wie beispielsweise Basketballspielen auf einem umzäunten Hartbodenfreiplatz mit integriertem Drainagesystem und kleiner Zuschauertribüne.
Da ich selber ein passionierter Hobbybasketballspieler bin, hätte ich mich in meiner Jugend sicher gefreut, wenn es damals einen derart tolles und vor allem durchdachtes Basketballfeld in meinem Dorf gegeben hätte. Gab’s aber nicht. Was es gab waren meist Korbanlagen, die entweder völlig billiger Schrott waren oder – und das ist eigentlich viel schlimmer – zwar durchaus hochwertig, aber an völlig unsinnigen Orten aufgestellt waren: Auf Wiesen, Asche- oder Sandflächen.
Doof: Ein Basketballkorb mitten auf einer Wiese.
Man muss eigentlich kein Genie sein, um zu erahnen, dass sich ein handelsüblicher Basketball auf Wiese, Asche oder Sand nicht ganz so gut dribbeln lässt. Trotzdem schaffen es Städte und Kommunen in Basketball-entwicklungsländern wie Deutschland immer wieder relativ hochwertige und -preisige Korbanlagen auf völlig ungeeignete Untergründe zu verpflanzen und sich dann womöglich noch zu wundern, wenn diese Korbanlagen ungenutzt verwittern.
Da könnt‘ ich jedes Mal kotzen! Und tue es innerlich auch. Jahrelang habe ich mir dieses Trauerspiel, das andere Bauskandale wie Stuttgart 21, Elbphilharmonie oder Flughafen BER locker in den Schatten stellt, kopfschüttelnd angeschaut. Und zwar ohne aufzubegehren. Doch damit ist nun Schluss! Ich tue von nun an das, was jeder engagierte Querulant macht: Ich trage meinen Protest ins Internet und hoffe, dass sich die Welt dadurch zum Besseren verändert. Ich gehe zu instagram.
Genauso doof, aber nicht weniger selten: Ein Basketballkorb auf Sand.
Unter dem Hashtag uselesshoops sammle ich Fotos von Korbanlagen, die an für die Ausübung des Basketballsports völlig ungeeigneten Stellen aufgestellt wurden. Damit schreie ich meinen Schmerz in die Welt hinaus und verschaffe diesen kaum beachteten Bauskandalen die Öffentlichkeit, die sie verdienen!
Und ihr könnt mitmachen: Wenn ihr solche Korbanlagen der geistigen Umnachtung kennt, dann schreibt mir mit Ortsangabe der Bausünde: post(ät)der-mack.de!
Oder macht direkt ein Foto davon und packt #uselesshoops, das Hashtag der Schande, dazu.
Mein Interview (hier geht es zum ersten Teil) mit Jan Loh, dem alle-mal-malen-Mann, dauert insgesamt eine gute Dreiviertelstunde. Der laute Kneipenbetrieb im Bonner Salvator macht es mir oft schwer den 82-Jährigen zu verstehen. Oft bringt er Sätze nicht ganz zu Ende oder diskutiert derartig leidenschaftlich, dass ich nicht immer ganz folgen kann. Da mein Aufnahmegerät mitläuft, kann ich aber im Nachinein im Zweifel noch einmal zurückspulen und so das Gespräch wirklichkeitsgetreu wiedergeben.
Jan Loh macht bei mir nicht nur eine „Gesichts-Charakter-Kurzdeutung“, sondern zeichnet auch mich und meine Freundin, die als Fotografin dabei ist und Bilder macht. Außerdem deutet er noch meine Handschrift. Weil es den Rahmen sprengen würde, taucht die Handschriftdeutung in diesem Blog-Artikel ebensowenig auf wie Gespräche, die ich mit Jan Loh bei ausgeschaltetem Aufnahmegerät geführt habe.
Einen dieser nichtaufgezeichneten Gesprächsfetzen möchte ich trotzdem kurz wiedergeben: Auf die Frage, was der alle-mal-malen-Mann in seiner Aktentasche Abend für Abend mit sich herumträgt, sagt er: „Da ist das wichtigste überhaupt drin! Wissen Sie was das ist?“. Natürlich weiß ich es nicht. Jan Loh freut sich und sagt nach einer kleinen Pause: „Luft! Da ist Luft drin!“.
Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Sie sind schon über 80…
…das steht in Wikipedia! Aber ja, das stimmt.
Andere Menschen in Ihrem Alter pflanzen vielleicht im Garten Salat an, Sie ziehen nächtelang durch die Kneipen und malen – warum tun Sie sich das eigentlich an?
Weil’s interessant ist! Ich kann ja auch dann morgens schlafen, es ist keine Arbeit – es ist eine kreative, schöne, interessante Betätigung! Ich kriege ja auch meine Bewegung dadurch. Und ich mache Menschen eine Freude. Da kommt viele zusammen.
Anderen Freude zu machen ist noch eine größere Freude, als Freude zu empfangen!
Wie ist das eigentlich, wenn Sie die Leute malen? Ich hab den Eindruck Sie machen die Preise spontan. Oder haben Sie eine feste Preisliste?
Nein! Erst mal: Preise hab ich überhaupt nicht. Das ist ein marktgemäßes Wert-Leistungsverhältnis. Ich hab so genannte „Symbolentgelte“. Können Sie sich vorstellen, was damit gemeint ist?
Das müssen Sie mir erklären!
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Volkswagen-Werk dem General Motors-Konzern für einen Dollar angeboten. Die haben aber abgelehnt, können sie nichts mit anfangen! Das ist ein Symbolentgelt. Dass man also Geld nimmt, damit nicht gesagt wird: Wir haben das umsonst geschenkt gekriegt.
Bonn besteht ja zum größeren Teil aus Schülern und Studenten. Und die können ja nur ganz wenig zahlen. Ich hab so Entgelte, wenn ich so ein Einzelportrait mache, von sagen wir mal: Fünf Euro. Wenn ich mehr Leute mal, dann vielleicht für einen Euro pro Person, bei vielleicht 10 Leuten. Je mehr Leute, umso billiger für den Einzelnen.
Bei Kindern mach ich’s auch manchmal umsonst. Wenn ich dann so situiertere Leute sehe, dann geh ich etwas hoch, aber nicht so viel. Man hat ja auch immer die Vergleichsmöglichkeit: Der macht das ja auch bei denen umsonst, bei mir ist es auf einmal mehr… Vielleicht so drei Euro bei drei Leuten pro Person.
Bei mir ist es ja auch schneller! Was bei anderen Stunden dauert, das mache ich in Minuten.
Woanders könnte ich vielleicht mehr verdienen, aber: Überraschender Weise hab ich ja so viele Fans, das Interesse ist so groß! Das spricht sich dann rum, dann lassen die sich immer wieder mal malen für ein paar Euro.
Wie viel Geld am Abend können Sie mit der Zeichnerei machen?
Ach, das ist auch immer so eine Sache: Manchmal mach ich so drei, vier, dann aber auch fünf, sechs Bilder am Abend, oder auch schon mal zehn am Wochenende.
Ja, nicht nur da! Wissen Sie was „original“ heißt? Original heißt ursprünglich. Und ursprünglich ist jeder. Jeder ist ein Original in dieser Hinsicht. Man nimmt aber oft so allgemeine Begriffe und wendet sie auf spezielle Fälle an, die an und für sich für jeden gelten! Jeder ist original und jeder ist auch schön auf seine Weise – wie ich schon sagte. Wir sind alle original.
Das ist ja auch teilweise schon wieder ein Lob: Oh, der ist ja originell, der schafft etwas neues! „Original“ ist so etwas abgegriffen oder steht so im Gefühlsansehen.
Loh-Portrait von meiner Freundin Bea und mir.
Aber Sie sind bei Wikipedia in dieser Kategorie drin und Sie sind das einzige noch lebende „Bonner Original“ dort – fühlt man sich da geschmeichelt oder ist Ihnen das egal?
Egal nun grade nicht. Es freut mich schon. Aber so stark tangiert mich das nicht. Ich kann ja auch nichts dafür! Das haben ja die anderen alle gemacht. Das halbe Internet ist voll von meinen Bildern! Ich hab kein einziges Bild selbst ins Internet gestellt.
Dann gab’s hier so unter den Studenten, zur StudiVZ-Zeit, an allen Universitäten Fan-Gruppen. Jetzt gibt’s ja fast nur noch facebook. Und ich weiß nicht wie die einzelnen Unis die Kurve gekriegt haben – in Bonn aber sehr gut. Vor zwei Monaten, das ist meine letzte Auskunft, gab’s da über fünftausend Fans (Anmerkung des Autors: Jan Loh meint die „Der alle-mal-malen-Mann“-Fanseite bei facebook, die ein Loh-Fan erstellt hat).
Dieses Echo überrascht mich eigentlich.
Dafür, dass Sie kein Fernsehen und kein Radio haben, sind Sie gut über facebook informiert…
Ja, ich frage immer. Ich komme ja selbst nicht ins Internet rein, weil ich nicht Mitglied dieser Organisation bin. Aber ich kriege schon Informationen.
Wie würden Sie ihren Zeichenstil oder Malstil beschreiben?
Ach, darüber hab ich mich auch noch nicht bemüht. Also ich zeichne möglichst was ich sehe. Und auch möglichst positiv, weil die meisten Leute mit Komplexen rumlaufen, sich nicht mögen. Dann soll man ihr Wertbewusstsein entwickeln. Es gibt an sich keine hässlichen Menschen! Es gibt nur außergewöhnliche…
Die meisten haben auch nicht die Kraft zur eigenen Persönlichkeit. Die meinen, je mehr sie angepasst sind, um so schöner, umso sicherer und dergleichen sind sie. Die bilden auch keinen eigenen Geschmack heraus und passen sich einfach an. Die allermeisten haben nur Modegeschmäcker und lassen sich nicht mal für einen Cent malen!
Sie bilden also das ab was Sie sehen, haben Sie gesagt…
Ich versuche das, ich bemühe mich darum! So ganz schaff ich das natürlich nicht.
Da gibt es diesen einen Kritikpunkt, der immer wieder auftaucht, dass Ihre Bilder alle gleich aussehen und sich die unterschiedlichen Personen nur durch äußere Merkmale wie Brillen oder Frisuren unterscheiden – was sagen Sie dazu?
„Die sehen ja alle gleich aus!“ Insofern ist das richtig, sagen wir mal „ähnlich“: Die Leute schauen bei mir alle fröhlich, sie freuen sich alle. Die Stimmung ist schon mal sehr ähnlich, das ist richtig. Und dann mal ich die Leute für gewöhnlich, wenn sie nicht grade an der Tischfront sitzen, so von der Seite – wie sie miteinander kommunizieren. Und das gibt auch wieder eine Fröhlichkeit und weil die Leute auch meist in einem ähnlichen Alter sind, ist dann auch die Verschiedenheit nicht so groß.
In der oberflächlichen Beurteilung sieht man so die Hauptsache, das Unwesentliche, die kleineren Teile, werden übersehen. Und wenn etwas ähnlich ist: Aha, das ist ja gleich! Wenn Sie zum Beispiel drei Mal einen aus Dortmund besoffen irgendwo sehen, sagen wir mal in Köln – was meinen Sie dann wie schnell es heißt: Die Dortmunder sind immer besoffen! Die Verallgemeinerung und die Reduktion des Gesamtbegriffes auf ein übliches Urteil.
Zum Beispiel das Gleiche ist ja viel einfacher zu denken als das Verschiedene. Das Verschiedene ist komplex. „Das ist ja alles das Selbe! Alles der selbe Scheiß!“ Wie schnell die Leute mit solchen Urteilen sind. Mit völlig vereinfachten, emotionalen Urteilen, ruck-zuck! Und daraus entsteht dann – und das erleb ich ja auch immer wieder: Die sehen ja alle gleich aus! Vor allen Dingen bei Neulingen.
Sie haben es vorhin selber gesagt: Ihre Bilder entstehen sehr schnell. Für ein Einzelportrait brauchen Sie meist nur fünf bis zehn Minuten…
Man kann an einem Bild Minuten malen, man kann Jahre malen. Die Mona Lisa kennen Sie ja. Da hat der Leonardo Da Vinci genauso lange dran gemalt wie Michelangelo an seiner ganzen Sixtinischen Kapelle. Man kann das ganze Leben malen, ganz fertig wird man nie.
Ich betrachte gar nichts als fertig! Ich mache das so, dass man das Wesentliche erkennen kann. Und dann auch zeitökonomisch. Je mehr Sie nun weiter arbeiten, desto relativ weniger schaffen Sie dann. Je mehr man in die Einzelheiten geht, je mehr Energie man auf die Einzelheiten verwendet, die auch teilweise wieder vom Wesentlichen ablenken können, desto weniger schafft man aufs Ganze gesehen.
Jetzt haben sie ja viele kleine Kunstwerke geschaffen…
Ja das sag ich auch nie, Kunstwerke! Höchstens mal so im saloppen Zusammenhang. Wenn ich kein anderes Wort zur Verfügung habe oder es in die Stimmung passt. Aber dann auch so ein bisschen zum Spaß.
Sagen wir’s mal mit Ihren Worten: Sie haben vielen Freude gemacht mit ihren Werken…
Sagen wir mal: Bilder!
…wie möchten Sie einmal in Erinnerung bleiben?
Ach ja… Das bestimme ich ja nicht. Das ist auch nicht so wichtig. Die Erinnerung, also die Kenntnisnahme, ist ja im ganzen nicht schlecht. Das wird wahrscheinlich auch so bleiben. Man verbessert sich ja auch ständig. Man lernt bewusst, mal unbewusst, was neues. Man kann immer Besseres immer schneller, immer kommunikativer darstellen. Und das ist auch eine besondere Freude, wenn man merkt, dass man immer besser wird. Ganz von selbst. Wieder ein gutes Ding, was von selbst kommt und nix kostet!
Was lernen Sie denn noch dazu?
Ach, man lernt schneller die Gesamtheit der Leute zu erfassen. Den Ausdruck, die Form. Inhalt, Stimmung und Form eines Gesichtes. Und man lernt wie unendlich reichhaltig ein Gesicht ist. Man lernt auch über das, was man unmittelbar sieht, hinauszusehen. Auch viel verschiedene Sehweisen: Zu sehen, wahrzunehmen und zu deuten. Man hat mal das menschliche Gesicht als die Interessanteste Fläche des Universums definiert – das ist gar nicht so unrichtig.
Haben Sie eigentlich eine feste Route, die Sie Abends durch Bonn nehmen, wenn Sie zeichnen?
Ja, blöder Weise ja. Was mich überrascht ist eigentlich, dass das hält: In etlichen Gaststätten gibt’s Leute, die lassen sich immer wieder malen. Während in anderen Gaststätten wieder weniger – woran das nun im einzelnen liegt, das ist schwer zu sagen.
Wenn die Gaststätte zu voll ist, ist das auch nicht so günstig. Zu leer wieder auch nicht, aber je weniger da sind, umso größer die positive Einstellung. Wenn einer da sitzt, ist die Chance größer bei dem einzelnen anzukommen, als wenn mehrere da sitzen und dann bei jedem einzelnen anzukommen. Das richtige Verhältnis von Fülle und Leere, von Jungen und Alten – das hängt von so vielen Faktoren ab!
Gibt es irgendwelche Läden, in die Sie nicht reingehen würden?
Einige wollen es nicht. Einige sind dagegen.
Sind Sie schon mal rausgeschmissen worden?
Ne, rausgeschmissen worden nicht. Aber es wird schon mal gesagt: Das wird nicht gerne gesehen, die Leute wollen nicht gestört werden. In Köln käme man praktisch in jede Kneipe rein! In Bonn sind einige reservierter. Woran das nun liegt? Der Kölner ist insgesamt aufgeschlossener. Aber der Gesamtabsatz ist auch nicht höher in Köln als hier. Aber auf Grund der Gesamtverhältnisse in Bonn mit diesen Fans, arbeite ich lieber in Bonn.
Es ist schon nett in Bonn zu arbeiten! Wer sich nicht von mir malen lässt, ist weder ein Bonner, noch ein Rheinländer, heißt es. Oder einige, die von Bonn wegziehen, sagen zu mir: Sie sind für mich Bonn! Die wollen von mir ein Autogramm haben und sagen: Nichts erinnert mich so sehr an Bonn, wie Sie!
Fast jeder, der in Bonn Abends schon einmal in einer Kneipe war, kennt den kauzigen alten Mann mit dem widerspenstigen weißen Haar. Plötzlich taucht er am Tisch auf und fragt: „Alle mal malen hier?“
Jan Loh, 82 Jahre alt, ist ein Kneipenphantom und laut Wikipedia das einzige noch lebende Bonner Original. Für ein paar Euro fertigt er Bleistiftzeichnungen für Trinkgesellschaften an. Außerdem bietet er Deutungen von Gesicht und Handschrift. Bei Menschen, die ihn nicht kennen, stößt er mit seinem charmant hingenuschelten Angeboten oft auf Ablehnung.
Bei seinen Fans genießt der „Alle-mal-malen-Mann“ hingegen Kultstatus. Seine Fanseite bei facebook hat aktuell fast so viele „likes“ wie die der ortsansässigen Lokalzeitung, ehemals Haupstadtzeitung, die jetzt in ihrer Printausgabe immerhin noch eine Auflage von fast 80.000 Exemplaren erreicht. In der Altstadt Bonns ist sein Gesicht als Graffito in die Streetart eingegangen, „alle-mal-malen-Mann“-Bilder werden von einer eigenen Fanseite gesammelt.
Neulich saß ich mit ein paar guten Freunden in einer Bonner Kneipe (siehe oben). Als der „alle-mal-malen-Mann“ an unseren Tisch kam, wurde mir blitzartig klar: Dieser Mann muss uns zeichnen! Denn wir alle werden Jan Loh vermutlich erst dann zu würdigen wissen, wenn er einmal nicht mehr an unserem Tisch auftaucht.
Also habe ich mir von einem weiteren Bonner Original und Kneipenphantom die Handynummer von Jan Loh organisiert und ihn zu einem Interview eingeladen.
Normaler Weise unterhalte ich mich für Radiobeiträge vor einem laufenden Mikrofon nur kurz mit Interviewpartnern, da ein solcher Radiobeitrag meist nur eine Minute und dreißig Sekunden lang ist.
Für Jan Loh, der weder Radio noch Fernsehen hat, habe ich mir aber bewusst viel Zeit genommen. Ich hatte keine Eile, wollte mehr erfahren und habe mich dazu entschlossen den „alle-mal-malen-Mann“ ausreden zu lassen.
Hier ist Teil eins des Gesprächs mit einem Bonner Original und Kneipenphilosoph:
Die erste Frage ist direkt etwas philosophisch: Herr Loh – sind Sie ein Künstler?
Also ich definiere mich nicht. Die deutsche Sprache ist voller allgemeinen Begriffe, zum Beispiel „Kitsch“ und „Kunst“. Der Kitschbegriff ist einmalig in Deutschland, den haben sogar die Franzosen übernommen: „Le kitsch“. Die Amerikaner auch.
Kaum einer kann definieren, was ein Künstler eigentlich ist und was man darunter versteht. Also ich nenne mich nie „Künstler“. Vielleicht hin und wieder mal, wenn es nicht anders zu verdeutlichen ist.
Besser ist Bildermaler oder Zeichner!
…Stadtmaler habe ich mal gelesen…
Naja, es gibt so verschiedene Bezeichnungen. Es gibt so viel Spekulation darüber… Ob ich Künstler bin haben Sie gefragt?
Das ist noch schwerer zu beantworten, als ob man sich Künstler nennen darf. Das geht schon über die Philosophie hinaus.
Das kann ich nicht beantworten, da kann sich jeder einen eigenen Begriff von bilden, der mich ein bisschen kennt. Oder er kann es auch sein lassen! Es kommt nicht auf die Klassifizierung und ein Wort an, sondern dass man eben das erlebt, was man sieht oder denkt und dergleichen.
Sie sind ja wegen ihres Spruchs als der „Alle-mal-malen-Mann“ bekannt – müsste es nicht eigentlich heißen „alle mal zeichnen“?
Nein, haben sie schon mal von einer Pinselzeichnung gehört? Man kann mit einem Pinsel zeichnen und mit einem Stift malen. Es kommt nicht auf das Instrument an, sondern auf die Machart. Malen ist mehr wenn man dabei schattiert, wenn man über die Linie hinausgeht. Zeichnung ist meist nur linear – das ist die überwiegende Betrachtungsweise. Jetzt kann jeder sich seine eigene Meinung bilden. Was ich mache ist eine Kombination aus zeichnen und malen. Ich schattiere also mehr als ich Linien darstelle. Mit Bleistift kann man ja beides: Einerseits spitz, andererseits schräg halten, dann kann man Schatten nachziehen.
Ich habe gelesen – und korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege – dass sie keine künstlerische Ausbildung genossen haben – wie sind Sie denn zum Zeichnen oder Malen gekommen?
Ein künstlerische Ausbildung oder Bildung bekommt man nicht nur an den üblichen Schulen. Kreativität lernen Sie nur für sich selbst und aus sich selbst heraus!
Aber durch die Kneipen ziehen Sie vermutlich noch nicht so lange…
Nein, nein! Das tue ich etwa so seit gut zehn Jahren. Die Bilder hätte ich weitgehend auch schon mit zwölf Jahren malen können – allerdings nicht so schnell und dann auch mit Unterbrechungen immer wieder. Und man zeichnet ja…
Die Bedienung bringt Jan Loh einen Kaffee, er schüttet sich gemächlich drei Tüten Zucker hinein.
…man zeichnet und malt ja dauernd. Beethoven: Der hat ständig bewusst und unbewusst komponiert und längst nicht alles aufgeschrieben, was er komponiert hat. Man kann ja nur einen ganz kleinen Bruchteil von dem, was man in sich gefunden hat, darstellen. Und dazu brauchen Sie keine Schule an sich. Ein so genannter Künstler, der schafft immer aus sich selbst heraus.
Dann sind Sie ein Künstler!
Nein, jetzt lassen Sie den Ausdruck mal ganz weg. Ich sage nur: „der Künstler“. Ob ich das bin – die Frage kann ich nicht beantworten. Das interessiert mich auch nicht! Wir sind ja alle so Gesellschaftswesen: Die Leute haben ja kaum einen eigenen Kunstgeschmack und haben nur angepasste Modegeschmäcker. In der überwiegenden Zahl, jedenfalls die Erwachsenen. Hier muss man unbedingt dünn sein. Wenn man nicht dünn ist, ist man hässlich. In arabischen Ländern genau umgekehrt! Da muss man dick sein!
Kennt ihr die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern? Die sagt alles, nicht? Der Kaiser sagt: Ich komme mit Kleidern. Jetzt sehen die Leute nicht, sondern glauben was der Kaiser sagt. Die haben überhaupt keinen eigenen Eindruck, sind also nur Vasalllenwesen, die nur aufnehmen, aber gar nicht selbst empfinden und beurteilen können (dabei schlägt er rhythmisch mit der Faust auf den Tisch). Politisch ist das hoch gefährlich! Alles latscht in den Massentod, in die Katastrophe. Die Kinder denken ursprünglicher und sagen: Der ist doch nackt!
Man verlernt also das Ursprüngliche, sein eigenes Wesen, zu Gunsten der gesellschaftlichen Anpassung.
Da sind wir ja auch schnell beim Schönheitsbegriff. Wenn Sie Leute malen sagen Sie ja gerne: „Du brauchst nicht posieren, sei ganz natürlich!“ und: „Du bist schön so!“…
(lacht) Nein, das sag ich so nicht. Ich mache viel Jux dabei. Wenn die Leute ganz ablehnend sind sage ich: So hässlich seid ihr doch gar nicht! Aber die meisten lassen sich nicht mal für einen Cent malen, weil sie eben den Modegeschmack haben und auf Grund dessen meinen, sie entsprechen der Mode nicht und sind deshalb hässlich und laufen das ganze Leben mit Komplexen rum.
Und davon will ich sie halt befreien. Ich sage: Es gibt nur schöne Menschen. Und schöne Geschmäcker. Jeder ist schön auf seine Weise. Herrgott oder Natur – je nach Auffassung – machen wunderschöne Menschen und einen Verneinung der eigenen Schönheit ist eine Beleidigung der eigenen selbst und des Schöpfers auch. Das wird theoretisch zugegeben, aber in der Praxis…
Wir sind da ja auch widersprüchlich. Auch bei Umfragen: Da wird gesagt, was man für richtig hält und man tut dann oft genau das Gegenteil. Man tut dann das Modeangepasste, sagt dann aber was vernünftig scheint und merkt oft gar nicht die Differenz davon. Daran sind schon so viele Umfragen gescheitert!
Jetzt haben wir viel philosophiert, lassen Sie uns praktisch über ihre Arbeit reden: Wie sieht ihr typischer Arbeitstag aus, wenn Sie zeichnen?
Naja, ich fange so gegen halb acht an und dann mach ich so meinen Spaziergang durch die Lokale. Und was dann anfällt – das ist sehr verschieden. Das hängt vom Wetter ab, von den Launen… Das lässt sich gar nicht so genau begründen, das können auch die Geschäftsleute nicht, warum die Leute sich so oder so verhalten und dann wieder genau gegenteilig – unter ähnlichen Umständen sogar. Und das Verhalten schafft auch seine Widersprüche. Das kann man gar nicht im einzelnen so beurteilen, weil das viel zu komplex ist.
Ich mach dann meinen Spaziergang und frage dann auch. Ich mach auch Jux dabei dann. Manchmal werde ich sehr ernst aufgefasst, dann mach ich sofort einen Rückzieher. Aber ich hab mich noch nie entschuldigen müssen. Auf jeden Fall ist das sehr interessant.
Und wenn ich gemalt hab, dann biete ich auch diese Charakterdeutung an. Am Anfang muss man das erst erklären. Die kommen, wenn sie gemacht sind, auch besser an als die Bilder.
Was lesen Sie aus meinem Gesicht?
Ja, da kann man ja mal eine Gesichts-Charakter-Kurzdeutung machen.
(Loh deutet auf seinen Kaffee)
Ich mach mir mal eben noch Milch rein. Wie lang haben Sie Zeit?
Ich habe genug Zeit…
Dann muss ich ja erst ne kleine Vorrede zu halten.
(Jan Loh nestelt an den winzigen Kaffesahne-Päckchen herum)
Mehrere Tassen Kaffee wirken wie Doping – wer sagt das wohl?
(Es entsteht eine Pause)
Der Beckenbauer!
(Er schüttet sich Milch ein)
Da ist ja sogar ein Keks dabei!
Also ich hab weder Radio noch Fernsehen. Hab ich auch nie gehabt. Ich hatte mal ein Radio vor 50 Jahren, hab ich aber nach zwei Wochen wieder rausgeschmissen.
Wo kann man diese Sendung denn hören eventuell?
Ohne Radio wird’s schwierig!
(Er betrachtet seinen Kaffee)
Ach, das ist ja ein Glas. Da ist ja noch nicht mal ein Henkel dran! Das ist ja heiß!
(Er wickelt eine Serviette um die Glastasse)
Naja, geht noch.
Was ist das denn hier?
(Er betrachtet den Löffel)
In Deutschland muss man die Löffel oft noch nachputzen! In Entwicklungsländern, China – piek sauber, aber da kann schon mal was an der Erde liegen. Eine falsche Sauberkeitsordnung in mancher Hinsicht.
Darf ich mal fragen, was Sie beruflich gemacht haben, bevor sie „Stadtmaler“ wurden?
Ich hab hier, als die Regierung noch da war, Informationen über Entwicklungshilfe und Entwicklungsländer gegeben. Für alles was sich in Deutschland mit Entwicklungshilfe beschäftigte – aber so in Stundenarbeit. Über 30 Jahre, ohne auch nur einen Tag blau zu machen! War hochinteressant! So Informationsjobs sind die interessantesten, da können Sie auch viel bei lernen.
Waren Sie da auch selber im Ausland?
Nein, nur privat. Ich war hier. Die brauchten ständig Informationen. Alle Regierungs- und privaten Institutionen – aktuelle Informationen.
Das wurde dann archiviert, in Informationsmappen zusammengefasst für Entwicklungsländer und so… Naja, das hab ich dann gemacht! Das war jeden Tag was neues, immer interessant.
Wollen wir wieder zurückkommen auf die Gesichtsanalyse?
Ich muss aber eine kleine Vorrede halten! Sie nennen das vielleicht Analyse, haben Sie gesagt? Wissen Sie was Analyse heißt? Früher wusste das fast jeder, da konnte man noch Fremdsprachen. Heute schmeißen alle mit dem Wort rum und keiner weiß: Analyse kommt aus dem Griechischem und heißt „zerlegen“! Wenn Sie Ihr Auto zerlegen und liegen lassen, dann sagt jeder wohl mit Recht: Der hat sie nicht mehr alle!
Dazu braucht es den Ergänzungsbergriff zur Analyse. Können Sie sich darunter was vorstellen? Das ist das Zusammensetzen. Betrachten oder untersuchen heißt auseinander nehmen, die Details betrachten, beurteilen und dann nach Regeln – sagen wir mal der Therapie oder Reparatur – wieder zusammensetzen.
Im deutschen Wort „Deutung“ ist das drin. Aber wir sind ja so fremdwortvernarrt! Der griechische Ausdruck für das Wiederzusammensetzen ist die „Synthese“. Das müsste also „Analy-Synthese“ heißen, „Auseinandernehmen-Wiederzusammensetzen“. Die Begriffe mit „Analyse“ greifen alle zu kurz, auch „Psychoanalyse“! Man bleibt bei den Einzelheiten stehen, basta! Man verallgemeinert dann einen Gesamtbegriff und das kann natürlich nicht stimmen.
Ok, dann nehmen Sie mein Gesicht mal auseinander!
Nein, nein, nein! Ich sage, was ich sehe – aber die Faust am Gesicht kann ich dabei gar nicht gebrauchen!
(Ich entferne meine Hand, auf die ich meinen Kopf gestützt hatte, aus meinem Gesicht)
Aber ich wollte ja eine kleine Vorrede halten, die für alle diese Deutungen gilt: Wir sind alle gegensätzlich.
(Zu meiner Freundin gewandt, die als Fotografin dabei ist)
Du sagst ob das richtig ist – Frauen haben ja so einen Richtigkeitsinstinkt.
Nicht? Wir sind alle gegensätzlich: Wir ruhen mal, dann bewegen wir uns, dann haben wir Hunger, dann sind wir gesättigt. Die Chinesen sagen Jing/Jang – schon mal gehört, wahrscheinlich?
Die Gegensätze erzeugen sich auch: Zum Beispiel die Bewegung macht Müde und erzeugt Ruhe. Ruhe bündelt wieder Kräfte und erzeugt Bewegung. Ja, damit können wir mal anfangen:
(Loh betrachtet mein Gesicht)
Ja, Sie sind temperamentvoll. Ich sage mal: Jedes Gesicht ist unendlich ausdrucksreich, ändert sich ständig. Wir können jetzt das ganze Leben deuten, fertig werden wir dennoch nicht.
Und jeder Mensch hat auch alle menschlichen Eigenschaften.
Ich sag jetzt nur etwas besonders auffallendes, so 20 Eigenschaften zum Beispiel.
Sie haben die Lippen aufeinander – dann denken Sie automatisch mit dem Vorderhirn. Die planmäßige Intelligenz sitzt vorwiegend hier. Wenn Sie ein Problem durchdenken, arbeiten Sie hier mit. Vieles kriegen Sie aber nicht raus – am nächsten Tag fällt Ihnen aber was ein! Einfälle hat man meist – da gibt’s auch Untersuchungen zu – nach der zweiten Wiedergeburt, nach dem Wachwerden am Morgen.
Die hat man meist nach dem Wachwerden. Morgens, bei Spaziergängen. Viele große Geister wie Beethoven oder auch Zuckmayer sagte: Die besten Ideen hab ich bei Spaziergängen. Auf dem stillen Örtchen und so weiter!
(Er zeigt auf meine Stirn)
Also wenn Sie ein Problem durchdenken arbeiten sie meistens hiermit.
Sie kriegen dann längst nicht alles raus und am nächsten Tag, oft wenn man gar nicht dran denkt, oder sonst irgendwann im Urlaub, hat man plötzlich Einfälle. Die Einfalls- oder intuitive Intelligenz.
Können Sie sich darunter was vorstellen? Intuition heißt „die Eingebung, die von selber kommt“. So ähnlich wie der Einfall.
Sie können sich sicher erinnern, plötzlich mal einen Einfall gehabt zu haben, ohne drüber nachzudenken – oder grade weil Sie nicht drüber nachgedacht haben. Aus dem Gegensatz heraus. Wenn die Gehirnpartien lange geruht haben, dann werden Sie oft umso aktiver! Wenn Sie lange nachgedacht haben, dann ist das Gehirn manchmal etwas erschöpft. Dann haben Sie nicht so viele Einfälle.
Das richtige Verhältnis von Aktivität und Freiheit herauszufinden, das liegt bei dem Einzelnen. Jeder ist da verschieden.
Die Psychologen nennen es auch das Aha-Erlebnis. Man will eine Lösung finden, strengt sich an – aber auf einmal ist es da, zack!
Die besten Dinge im Leben kommen oft von selbst und sind gratis.
Ist eine schöne Philosophie, finde ich!
Jaja, so ist es auch! Stimmt ja auch obendrein noch.
Sie sitzen auch ruhig und: Fingerbewegungen! Zwischen Hirn und Hand und Hirn und Füßen bestehen enge Verbindungen. Das waren vermutlich auch die Bewegungs- und Tastorgane im Urwald. Wenn etwas passierte, da an Fingern und Füßen, musste das schnell im Gehirn gemeldet werden. Das Gehirn entschied und diese Organe mussten schnell reagieren darauf. Man spricht ja auch vom Fingerspitzengefühl, oder „Fingerschmerzen gehen zu Herzen“. Oder in der Akupunktur: Da spielen die Hände, die Finger eine große Rolle. Sie können über die Fingerspitzen praktisch alle Schmerzen abreagieren. Ist allerdings ein bisschen komplex, aber umso interessanter!
Ich fand das schon sehr aufschlussreich…
Ja, aber wir sind ja noch längst nicht fertig. Das war ja jetzt das Minimum vom Minimum vom Minimum… Aber gehen Sie mal weiter mit Ihren Fragen.
Als ich von der Polizei hinter das Absperrband gebeten wurde, war die Lage am Bonner Hauptbahnhof noch unübersichtlich: Es hieß, eine verdächtige Tasche sei an Gleis 1 gefunden worden. Aus ihr hingen Drähte und man habe sie mit einer Wasserkanone „geöffnet“, was so viel heißt wie: völlig zerfetzt. Bevor ich den abgesperrten Gleisbereich betreten konnte, auf dem Experten des LKA bereits auf den Knien die winzigen Überreste des Tascheninhalts vom Boden auflasen, hatte ich noch in die laufende Sendung geschaltet. Die Kollegen von Print und Fernsehen waren bereits am Gleis, es galt ihren Wissensvorsprung aufzuholen.
Der war aber geringer als zuerst befürchtet: Es zeigte sich nämlich schnell, dass die Polizeizuständigkeiten vor Ort noch völlig ungeklärt waren und die Informationen deshalb eher träge flossen. Die Bundespolizei hatte noch das Sagen, schließlich ist sie für die Sicherheit an Bahnhöfen zuständig. Außerdem waren aber natürlich noch Polizisten aus Bonn, Sprengstoffexperten und Leute von der Spurensicherung vor Ort.
Polizisten suchen am Hauptbahnhof nach Teilen des Sprengsatzes.
Ein Bundespolizist rief die Meute der Journalisten zusammen, um eine Erklärung abzugeben. Millisekunden nachdem er tief eingeatmet hatte, um den ersten Satz zu formulieren, nach dem die Pressemeute (mich eingeschlossen) lechzten, klingelte sein Handy. Er dürfe nun doch nichts sagen, teilte er uns mit, Polizei-Pressesprecher aus Köln seien aber unterwegs. Stattdessen trafen dann aber eine gefühlte Ewigkeit später zwei Pressemenschen der Kreispolizei aus Siegburg ein, um uns in Bonn über einen Fall zu informieren, dessen Handlung sich wenige Meter vor unserer Nase abspielte, der aber von den Kollegen aus Köln geleitet wurde (,die aber nie für mich erkennbar auftauchten).
Der langen Einleitung kurzer Sinn: Im gesamten weiteren Verlauf des Falles „Bombe am Bonner Bahnhof“ gingen die Zuständigkeiten der Ermittlungsbehörden durcheinander und die Informationspolitik war eher als dürftig zu bezeichnen. Um beispielsweise einen Telefon O-Ton von der Kölner Polizei zu bekommen musste ich mir fast schon ein Bein ausreißen. Gelohnt hatte sich die Mühe dann auch nur bedingt, weil es aus Köln nur hieß man ermittle „in alle Richtungen“. Auch von einer Pressekonferenz der Kölner Polizei erfuhren wir erst nur durch andere Medien. Nach einem Anruf in Köln bestätigte die Polizei aber den Termin und wir witzelten schon ob wir melden sollten: „Die Kölner Polizei gibt heute um 17 Uhr eine Pressekonferenz zur Bombe am Bonner Hauptbahnhof. Das bestätigte die Polizei auf Radio Bonn/Rhein-Sieg Nachfrage“.
Raum für allerlei Spekulation also und der erste, der diesen Mutmaßungsreigen eröffnete, war erwartungsgemäß die BILD-Zeitung. Sie war es, die unter Berufung auf „Sicherheitskreise“ (dieses Wort sollte auch noch bei ganz vielen anderen Medien auftauchen, wenn es darum ging eigene Spekulationen kund zu tun), als erste eine Verbindung zur so genannten „Bonner Salafistenszene“ herstellte. Nun muss man natürlich mit Enthüllungen der BILD erfahrungsgemäß immer etwas vorsichtig sein. Trotzdem sprangen alle Medien auf den Salafismus-Zug auf und als dann auch noch zwei mutmaßliche radikale Islamisten festgenommen wurden, schien die Sache klar.
Blöd nur, dass die beiden, die zweifelsohne einen radikal-islamischen Hintergrund haben, mit der Sache am Gleis 1 offenbar nichts zu tun hatten und wieder laufen gelassen werden mussten. Auch über die Gefährlichkeit der Bombe gab es lange Zeit wilde Spekulationen, weil die Polizei sich nicht einmal darauf festlegen wollte, ob es sich überhaupt um eine Bombe im eigentlichen Sinne handelte.
Von der Polizei Köln veröffentlichter Videoausschnitt.
Die Polizei in Köln hatte inzwischen auch ein Phantombild eines Mannes veröffentlicht, der als Zeuge oder Tatbeteiligter in Frage kommt. Witziger Weise war bereits lange zuvor, noch am Gleis 1 des Bonner Hauptbahnhofs, einem Beamten der Bundespolizei herausgerutscht, dass wohl ein „Dunkelhäutiger“ mit der Tasche gesehen worden sein soll. Interessant, dass an manch wildem Gerücht oftmals auch ein Fünkchen Wahrheit dran zu sein scheint…
Insgesamt muss ich sagen, dass solch ein spektakulärer Fall mit glimpflichem Ausgang für einen kleinen Lokalradio-Mann natürlich ein Glücksfall ist: Bonn ist bundesweit in den Medien, was ja den Großstadt-Phantasien einiger im Örtchen entgegenkommen dürfte. Auf der anderen Seite ist das Schreck-Potential „Islamistischer Terrorismus in der Nachbarschaft“ natürlich irgendwie beunruhigend. Im von der Polizei veröffentlichen Video, das den vermeintlichen Bombenleger zeigt, wirkt es tatsächlich so, als trage der Mann einen langen Vollbart, der ungute Erinnerungen an den „Bonner Salafisten“ Murat K. wach ruft. Einblicke in die verquere Gedankenwelt eines ideologisch verblendeten Extremisten konnte ich nämlich bei dessen Prozess vor dem Bonner Landgericht mehr als genug bekommen. Murat K. hielt es nämlich für völlig ok mit einem langen Küchenmesser auf Polizisten einzustechen, wenn ein armseliger Haufen doofer Neonazis von seinem Versammlungsrecht Gebrauch macht und auf plumpste Art gezielt Moslems provoziert. Kaum vorzustellen, was so einer mit einer Bombe anrichten könnte.
Sollte sich wirklich herausstellen, dass der Bombenalarm am Hauptbahnhof auf die „Bonner Salafistenszene“ zurückgeht, dann hat die Region ein Problem und Bonn könnte sich wirklich auf unrühmliche Art und Weise landesweit einen Namen als Extremistenhochburg machen. Da dieser Fall aber wie gesagt eine ganz eigene Dynamik hat, bleibt im Moment alles Spekulation. Gut möglich, dass genau in diesem Moment schon weitere Details bekannt werden, die die Geschichte wieder in eine ganz andere Richtung weiterdrehen.
41 Jahre lang war Bonn die Hauptstadt Westdeutschlands. Neun weitere Jahre war die Provinzstadt am Rhein Regierungssitz des wiedervereinigten Deutschlands. Warum das so war erscheint auch heute noch rätselhaft. Manche behaupten, dass Bonn nur deshalb Hauptstadt wurde, weil Konrad Adenauer seinen Weg zur Arbeit möglichst kurz halten wollte. Trotzdem haben sich die Bonner natürlich schnell an den verheißungsvollen Klang des Wortes „Hauptstadt“ gewöhnt und fühlen sich noch immer irgendwie geschmeichelt. Auch wenn Bonn ähnlich großstädtisch ist wie -sagen wir mal – Bielefeld.
Vom Bonner Stadthaus sieht man wenigstens das Bonner Stadthaus nicht.
Diesem „Hauptstadtgefühl“ konnte auch der Umzug der Regierung nach Berlin nichts anhaben. Aus der Hauptstadt, wurde flugs die „Bundesstadt“ gemacht. Immerhin durfte Bonn ja sechs Bundesministerien (sozusagen als Geiseln) behalten. Seither verteidigt Bonn diesen Restglanz einer untergegangenen Epoche mit Händen, Füßen und Rechtsgutachten.
In Bonn herrscht letztlich seit dem Entzug der Hauptstadtwürde auf der einen Seite das seltsam-nostalgische Schwelgen in der eigenen großen Vergangenheit, als man noch die Schaltzentrale der letzten Bastion gegen den Sozialismus war. Und auf der anderen Seite der eitle Wunsch, den alten Glanz wieder zu beleben, um mit stolz geschwellter Brust Richtung Spree ausrufen zu können: „Schaut her: Wir sind wieder wer!“
Zwei Bonner Bauprojekte sind Symbole dieses Größenwahns. Beiden gemein ist, dass sie von ihrer Vollendung weit entfernt und alles andere als unumstritten sind. Das eine ist das Beethoven Festspielhaus, von meinem Radio-Kollegen Frank Wallitzek gerne als „Luftschloss“ bezeichnet. Das andere ist das World Conference Center Bonn, auf dessen Baustelle ich mich diese Woche selber vom Baufortschritt überzeugen konnte.
Während es in der Diskussion um das Festspielhaus um die Zukunft Bonn zu gehen scheint, verhält es sich mit dem WCCB etwas anders: Hier geht es eher um bereits Vergangenes: Um die Rettung der Glaubwürdigkeit und des Ansehens der Stadt.
Beeindruckend groß: Das Foyer des WCCB-Kongressteils.
Wer mit dem „WCCB-Skandal“ grad nicht so gut vertraut ist, hier die Kurzfassung: Die Stadt wollte ein großes, internationales Kongresszentrum, denn die alten Plenarsäle standen nach dem Regierungsumzug nach Berlin ja leer. Beim Bau einer riesigen Kongresshalle und eines Hotels ließ man sich blöderweise auf einen Investor ohne Kohle ein, in dessen Firmenname zwar das Wort „Hyundai“ vorkam, dessen Firma aber bedauerlicher Weise nichts mit dem durchaus solventen Großkonzern Hyundai zu tun hatte. Nachdem das Kapital aufgebraucht war, standen die Baumaschinen auf der WCCB-Baustelle in den letzten drei Jahren still – trotzdem musste die Stadt bis heute rund 60 Millionen Euro zur Erhaltung (z.B. Heizung und Bewachung) der Großbaustelle investieren. Jetzt ist wieder Kohle, größtenteils von Bund und Land, da – damit soll zumindest die WCCB-Kongresshalle bis Mitte 2014 fertig gebaut werden.
Wie schon erwähnt hatte ich Gelegenheit mir die „Baustelle WCCB“ selbst anzuschauen. Der so genannte Skandal um das WCCB war für mich vorher eher abstrakt gewesen, auch wenn ich selber schon darüber berichtet hatte. Jetzt stand ich also mittendrin im WCCB und war beeindruckt von der Weiträumigkeit der unvollendeten Architektur. Zwar fragte eine leise Stimme der Vernunft in mir, wer zur Hölle denn (in Bonn!) einmal eine Kongresshalle nutzen soll, in der bis zu 3.500 Teilnehmer passen (in dem ganzen Gebäudekomplex sollen sogar einmal 5.000 Menschen gleichzeitig tagen können), der Eindruck des Glasdachs und die schiere Imposanz des Gebäudes überlagerten aber jede Vernunft in mir (und scheinbar auch jede Artikulationsfähigkeit des Oberbürgermeisters, der mir vor Ort diese schönen Sätze ins Mikro gab).
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Mit ein bisschen Abstand zum Erlebten geht mir auf: Bonn steht wirklich am Scheideweg zwischen Provinz und Metropole. Aber wenn man ehrlich ist, stand Bonn schon immer da – auch als Hauptstadt. Ich bin mir selber nicht sicher welche Richtung mir lieber wäre. Vielleicht macht das aber auch den Reiz aus: Nicht klein und nicht groß zu sein – sondern irgendwo dazwischen.