Wachstum

Es soll ja Menschen geben, die von ihrem Job nicht ausgelastet sind. Oder nicht erfüllt. Oder gar unglücklich, mit dem was sie tun. Oder alles zusammen. Im Idealfall suchen diese Menschen sich dann eine Art Kompensationshandlung. Malen, sammeln Briefmarken, gehen in den Puff oder schaffen sich einen Hund an. Im schlimmsten Fall resignieren sie und werden faul und frustriert.

Es gibt aber auch Menschen, die sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem, was sie beruflich machen. Und trotzdem machen sie nach Feierabend was völlig anderes. Sozusagen als Kontrastprogramm. Als Ausgleich. Zur Entspannung.

Meine Freundin fotografiert. Als Ausgleich. Eigentlich verdient sie als Wirtschaftsinformatikerin ihr Geld. Was sie da genau macht, weiß ich bis heute nicht so recht. Es liegt nicht daran, dass es mich nicht interessieren würde – denn das tut es, ich habe sie auch schon oft genug danach gefragt. Und sie hat es auch jedes Mal beantwortet. Dass ich es nicht so genau weiß liegt wohl eher daran, dass ich es einfach nicht kapiere. Ist halt nicht so meine Welt. Zahlen. Informatik. Wirtschaft.

Was ich gut kapiere, ist das mit der Fotografie. Das macht sie schon lange und sie macht das mittlerweile auch verdammt gut (nicht, dass es mal schlecht war, aber sie wird immer besser und besser). Portraits, Hochzeitsreportagen, Bewerbungsbilder, Akt – in jedem Fall Menschen, bloß keine Stillleben. Ok, auch gerne mal ein Hund oder ein süßes Küken. Das alles kann man auf ihrer Homepage bewundern.

Da sie ihre Fotografie als Nebenberuf mit Steuernummer und Eintrag bei der Handwerkskammer sehr seriös betreibt, hab ich mich irgendwann gefragt: Ist das noch der Ausgleich zur eigentlichen Arbeit oder schon ein zweiter Job? Ist das also noch Spaß oder Ernst?

Bea Altstadt
Fotografin am „Tatort“ ihres Projekts

Vielleicht hat sie sich das selber auch gefragt, denn seit einiger Zeit hat sie sich mit der Idee zu einem Projekt getragen, dass sie irgendwann mal ausstellen will. So richtig in einer Galerie, mit Bilderrahmen an der Wand, mit Vernissage, Sekt und Häppchen, Küsschen links, Küsschen rechts, Artikel in der Zeitung und so. Ich muss gestehen: Eine Zeitlang habe ich nicht mehr dran geglaubt, dass aus dem Traum Realität wird, dass sie es wirklich tut. Denn zwei Jobs sind ja eigentlich genug. Dann noch ein weiteres Fotoprojekt, an dem sie kein Geld verdient? Willst Du das wirklich, Bea?

Ja, sie wollte und tat es auch: Ihr nicht-kommerzielles Fotoprojekt, dass zwar Zeit kostet, dafür aber kein Geld bringt, ist Wirklichkeit geworden. Gesichter Bonns heißt es. Es gibt es bei twitter, facebook, youtube, als App und seit kurzem auch bei tumblr. Wo nimmt sie die Zeit dafür her?

Es muss daran liegen, dass sie es will. Dass es ein Herzensprojekt ist. Etwas, was sie tun möchte. Und wenn man den Wunsch hat etwas zu machen, etwas zu ändern, etwas Neues zu schaffen – dann sollte man es ganz einfach tun. Klingt bestechend einfach, trotzdem gelingt es den wenigsten. Einfach mal auf’s Herz hören und tun, was man für richtig hält.

In ihrem Fall ist das eine Liebeserklärung an die Stadt, in der wir mittlerweile zusammen leben: Bonn. Ihr Ziel: Die Vielfältigkeit Bonns zu zeigen. Anhand der Menschen, der Gesichter, die hier wohnen, leben, arbeiten. Ein Studiobild, schwarz-weiß. Ein Bild am Lieblingsort der Person, in Farbe. Eine Kombination aus intimer Nähe zu einem Mitbürger und der Stadt, die ihn umgibt. Lokal, persönlich, interessant. Was schätzen die Bonner an ihrer Stadt? Was hat sie hier her verschlagen? Was ist für sie Bonn? Wo fühlen sie sich wohl? Und vor allem: Warum? Aber vielleicht kann Bea das viel besser erklären als ich. Sie hat es jedenfalls sehr schön in einem Fotografie-Blog gemacht, bei kwerfeldein.

Was seither geschehen ist, ist verblüffend. Wir beide wachsen an diesem Projekt. Machen interessante Bekanntschaften, lernen auch die eigene Stadt noch einmal anders kennen. Denn ich bin längst Teil des Projekts. Nicht nur als dankbares Opfer zum Licht-Einstellen, wenn aus unserem Wohnzimmer wieder mal das Fotostudio wird. Ich war auch das erste Gesicht Bonns, denn man brauchte ja auch eine Vorlage, um andere von der Idee zu überzeugen, als noch keiner mitgemacht hatte. Bei den meisten Shootings bin ich außerdem dabei. Das war ich auch vor dem Projekt schon recht regelmäßig. Aber irgendwie hat dieses nicht-kommerzielle Unternehmen eine andere Qualität des Freiwilligendienstes.

Paul auf youtube
Nach Jahren des passiven Konsums das erste eigene Video auf youtube. Natürlich was mit Tieren. Die Leute wollen das!

Was haben wir schon alles erlebt: Unser Wohnzimmer war voll mit Gesichtern Bonns. Noch wenige Minuten vorher wildfremde Menschen, von denen man nur durch eine Email und der darin enthaltenen Aussage „Ich will mitmachen bei Deinem Projekt!“ eine vage Vorstellung hatte. Ein Sammeltermin für Studiobilder, denn ein Projekt neben Job und Nebenjob will gut organisiert sein. Geplant war, dass jeder Teilnehmer fotografiert wird und dann wieder geht. Nicht aus mangelnder Gastfreundschaft, sondern aus Effektivitätsgründen. Rund 10 Leute, die nicht nur die Gastgeber nicht kannten, sondern sich auch untereinander noch nie gesehen hatten, blieben aber einfach da. Volle Hütte, gute Laune, eine Gemeinsamkeit: Die Liebe zu Bonn. Ich muss gestehen, dass ich damals einen Moment lang mit dem Gedanken gespielt habe, einen Kasten Bier ins Wohnzimmer zu stellen, so sehr hatte dieser Fototermin die Dynamik einer guten WG-Fete angenommen.

Nicht weniger nett und umgänglich waren bisher auch die so genannten Promis, von denen es in Bonn tatsächlich auch ein paar gibt. Ein Nachmittag mit Bernhard Hoecker gehörte ebenso dazu wie ein Treffen mit dem „Alle-mal-malen-Mann“ oder anderen so genannten Kulturschaffenden Bonns. Und wenn ich so drüber nachdenke, dann steht das gesamte Projekt – trotz allem was wir schon damit erlebt haben – immer noch ziemlich am Anfang. Ohne zu viel verraten zu wollen: Da kommen noch ein paar Knaller, keine Sorge!

Was ich für mich außerdem feststelle: Ich habe den Traum meiner Freundin genutzt, um selber Dinge in die Tat umzusetzen, die mich unbewusst schon länger umgetrieben haben. Ich als Journalist konnte bisher „nur“ texten und Geschichten im Radio erzählen. Die Gesichter Bonns habe ich nun endlich dazu genutzt, mich ans Bewegtbild ranzuwagen. Wollte ich schon irgendwie seit längerem, aber ich war dann doch immer irgendwie zu bequem, mich auf Neuland zu wagen. Beas Projekt hat mich also nun dazu bewogen, youtube nicht mehr so zu nutzen wie 90 Prozent der User, also die Plattform nur passiv als Abspielstation zu konsumieren, sondern selber mal Content zu produzieren! Ist sicher noch ausbaufähig, aber hey: Horizont erweitert.

Vielleicht sind Träume also ansteckend. Und vielleicht sollte man diese Infektion einfach zulassen. Denn Wachstum zieht neues Wachstum nach sich.




Mein erstes „professionelles“ Video. Darauf lässt sich aufbauen! 😉


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert