Kategorie: Aufgefallen

Test

  • Ich bin gesichtsblind

    Ich bin gesichtsblind

    In meiner Abizeitschrift war neben dem obligatorischen Steckbrief zu jedem einzelnen Schüler der Stufe auch eine fiese Denunziations- Klatschspalte abgedruckt, in der die Mitschüler anonym etwas über die betreffende Person sagen konnten. Unnötig zu erwähnen, dass  unter der Rubrik „Und das sagen Deine Mitschüler über Dich“ bei unbeliebten Schülern schnell unschöne Dinge zusammen kamen, die man seiner Schwiegermuddi in Spe eines Tages lieber nicht zeigen würde.

    Unter meinem Grinsefoto stand in besagter Rubrik neben anderen kleineren Gemeinheiten der mysteriöse Satz:

    „Siehst Du uns eigentlich?“

    Bis heute weiß ich natürlich nicht, wer diese Frage an mich formuliert hat und es ist mir auch von Herzen wurscht. Ich muss aber gestehen, dass ich noch lange nach dem Abi gerätselt habe, was diese Frage denn nun genau zu bedeuten hat.

    Mach mal den Test hier!

    Unser zehnjähriges Abi-Jubiläum liegt jetzt auch schon wieder ein paar Jahre zurück und die oben zitierte, an mich gerichtete Frage hatte längst aufgehört mir Kopfzerbrechen zu bereiten, als mein Bruder mir eines Tages eine Mail schickte, in der er berichtete, dass er im Netz einen Artikel über Menschen gefunden habe, die außergewöhnliche Fähigkeiten hatten. Und zwar auf dem Gebiet des Gesichter-merkens. Er habe da recherchiert und einen Test des Birbeck Colleges der renommierten University of London gefunden mit dem er seine These, wonach auch er sich sehr gut Gesichter merken könne, nun wissenschaftlich erhärten könne.

    Unterschiede

    Nun ist es so, dass mein Bruder und ich uns in unserem Sozialverhalten tatsächlich stark voneinander unterscheiden: Während er sehr gut auf Leute zugehen kann und dauernd überall neue Freundschaften knüpft, ist genau das eher nicht so meins. Wenn ich früher auf einer Party niemand kannte, kam ich schwer mit Leuten ins Gespräch. Die Fähigkeit zum Smalltalk habe ich erst nach 10 Monaten Zivildienst im Altenheim erlernt. Wenn Du da mit 90-jährigen Omis nicht lernst übers Wetter zu plaudern, dann schweigst Du halt 10 Monate. Wollte ich nicht, deshalb lernte ich, über meinen Schatten zu springen. Mein Bruder musste sich diese Fähigkeit anscheinend aber nie erarbeiten, er hatte sie einfach.

    Gesichter merken fiel mir schon immer schwer

    Dass ich mir nicht so gut Gesichter merken oder diese wiedererkennen kann, ist mir schon immer irgendwie bewusst gewesen. Im Gegensatz zu meiner Unfähigkeit mir Namen zu merken, beruht diese Schwäche aber nicht auf Faulheit, sondern auf ehrlichem Unvermögen. Als mein Bruder mir in besagter Mail schrieb, er habe den Test zum Gesichter-erkennen gemacht und dabei 100 Prozent Erfolgsquote gehabt und mich dann auch noch fragte, ob das bei uns in der Familie vielleicht genetisch sei, schwante mir schon, dass wir beide hier wohl unterschiedliche Testergebnisse einfahren würden.

    Ich schrieb:

    Den Test mach ich später mal und prognostiziere für mich ca. 0 %.

    Und fügte noch hinzu: „Ich bin voll gesichtsblind!“ Zwinker-Smiley.

    Unterdurchschnittlich

    Foto aus dem Test der Uni London (© Birkbeck, University of London)

    Im Test bekommt man in einem ersten Schritt ein menschliches Gesicht aus drei Perspektiven zu sehen. Es handelt sich um schwarz-weiß Fotos echter Menschen, bei denen nur Kinn, Mund, Nase, Augen, Wangen, Stirn zu sehen sind. Keine Ohren, keine Frisuren. Nachdem man diese drei Perspektiven gesehen hat, werden einem drei weitere Köpfe gezeigt und man muss über die Tastatur die Nummer des Kopfes auswählen, den man zuvor gezeigt bekommen hat.

    Bis dahin noch easy und keiner Herausforderung. Danach wird’s aber schwieriger: In einem zweiten Schritt bekommt man für 20 Sekunden 6 der Gesichter zu sehen und muss dann danach aus drei Gesichtern eins auswählen, was man zuvor erkannt hat. Dabei werden aber die Gesichter von drei Seiten gezeigt (links,rechts, vorne).

    Spätestens hier war ich auf wildeste Mutmaßung angewiesen und drückte einfach irgendwelche Tasten. Die Testauswertung am Ende war für mich ähnlich verheerend wie Trumps Bilanz als Präsident.

    Your accuracy in the experiment was: 60%

    The average score on this test is around 80% correct responses for adult participants.
    A score of 60% or below may indicate face blindness.

    Autsch.

    Die sind doch alle uniformiert

    Ich begann nachzudenken und zu reflektieren. Am Ergebnis des Tests gab es keinen Zweifel: Beim ZDF Vorabendkrimi neulich hielt es der Regisseur für eine tolle Idee, zwei Hauptrollen mit jungen rothaarigen Frauen zu besetzen. Wer macht denn sowas?!? Ich jedenfalls hatte Probleme, der Handlung zu folgen. War das nicht die Freundin von dem einen Typ da, der…? Ne, doch nicht. War die Andere. Hä?

    Erst kürzlich habe ich beruflich einen Vortrag auf einer Management-Tagung gefilmt, bei dem ich im Anschluss noch Stimmen zum Vortrag für eine Umfrage mit der Kamera einzufangen hatte. Dummer Weise war dort direkt nach dem Vortrag Mittagspause, weshalb plötzlich alle Anzugträger wild durcheinander wuselten und ich erhebliche Mühe hatte, mir zu merken, wen von den ganzen Gestalten ich schon nach einem O-Ton gefragt oder sogar schon vor der Kamera hatte. Was müssen die auch alle Business-Tarn von Hugo Boss tragen, ehrlich!

    Ich bin gesichtsblind/habe Prosopagnosie

    Sehen für mich alle gleich aus.[Игорь Мухин (CC BY-SA 3.0)]

    Bevor ihr euch jetzt fragt, ob ich euch beim nächsten Wiedersehen wohl noch erkennen werde: Ja, werde ich. Nein, ich bin nicht dement. Auch wenn ich im Bus oder auf dem Flur mal an euch vorbeirenne, bin ich nicht arrogant – ich erkenne nur nicht immer jeden sofort.

    Gesichtsblindheit ist tatsächlich eine Art „Krankheit“ oder besser: eine Schwäche und nennt sich wissenschaftlich Prosopagnosie. Bedeutet aber ganz und gar nicht, dass ich absolut keine Gesichter erkennen kann.

    Ich muss mich lediglich mehr anstrengen Personen zu identifizieren. Ein Gesicht ist für mich erst mal kein Wert an sich. Wenn ich Personen unterscheiden will, helfen mir dabei meist Faktoren wie Frisur, Haut- oder Haarfarbe, Kleidung, Statur, Stimme, Mimik oder Gestik. Manchmal sogar Geruch. Aber eher selten.

    Wenn also jemand, den ich zum ersten Mal sehe, eine besonders große Nase hat, blond und einen Meter achtzig groß ist, dann erkenne ich ihn problemlos wieder – es sei denn er steht zufälliger Weise genau neben jemandem, der auch eine besonders große Nase hat, blond ist und einen Meter achtzig groß. Dann wirds für mich knifflig.

    Für mich persönlich völlig undurchschaubar sind dann Sendungen wie „Germanys Next Topmodel“ oder „Der Bachelor“: Das dort propagierte Schönheitsideal von jungen, symmetrischen, langhaarigen und langbeinigen Supermodel-Frauen macht eine Unterscheidung der Teilnehmer für einen Prosopagnostiker wie mich schon mal ziemlich schwer. Und dann stylen die sich ja auch noch dauernd um, verändern ihren Look – Tarnkappe hoch zehn! Gut, auf der anderen Seite ist von solchen Sendungen ja eh keine anspruchsvolle Handlung voller intellektueller Verflechtungen zu erwarten – da fällt es dann gar nicht auf, da ist es ja eh irgendwie Teil des Konzepts, dass alle Barbies gleich aussehen.

    Und wenn wir schon mal beim Thema Intellekt sind: Ganz witzig finde ich übrigens, dass Hochbegabte besonders oft von Prosopagnosie betroffen sein sollen. Behauptet jedenfalls der WDR.

    Irreführende Bezeichnung

    Das Wort „Gesichtsblindheit“ bzw. die Formulierung „gesichtsblind sein“ ist tatsächlich etwas irreführend: Beides suggeriert, dass man seine Mitmenschen nicht wiedererkennen kann. Dieses generelle Unvermögen haben aber nur Menschen mit einer schweren Hirnschädigung. Sie können Gesichter wirklich nicht erkennen  oder verlieren die Fähigkeit zur Gesichtserkennung und -zuordnung.

    Das ist bei mir natürlich nicht der Fall. Nimmt man mir aber – wie im Test der Uni London – durch schwarz-weiß Fotos Faktoren wie Augen, oder Hautfarbe weg, nimmt man mir Frisuren und Ohren, dann komme ich bei Gesichtern ins Schwimmen. Dann versuche ich mir zu merken, ob der Mund schmal ist, oder die Wangenknochen ausgeprägt. Ob die Augenbrauen buschig sind oder die Nase breit. Kurz gesagt: Ich entwickele Strategien, um klar zu kommen.

    Und deshalb ist mir wie vermutlich vielen Prosopagnostikern bisher nie so recht bewusst gewesen, dass mir etwas fehlt. Da draußen laufen also mit Sicherheit ganz viele „Gesichtsblinde“ wie ich rum, ohne es zu merken. Ein Farbenblinder weiß ja auch nicht von Geburt an, dass er farbenblind ist.

    Die Frage des anonymen Mitschülers aus der Abizeitung „Siehst Du uns eigentlich?“ kann ich also jetzt endlich ein für allemal beantworten:

    Ja, aber ich muss mir mehr Mühe geben euch zu erkennen – und vielleicht will ich das bei manchem auch einfach gar nicht.

  • Das Märchen von Tinderella: Vergeben auf Tinder. Ein Selbstversuch.*

    Mädchen aus einfachen Verhältnissen heiratet trotz aller Widerstände schmucken Prinzen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute – bis dass der Tod sie scheidet.

    Für die meisten von uns sind solche Beziehungsmodelle Märchen. Die Realität meiner Mitmenschen um die 30 sieht völlig anders aus: Wenn’s normal läuft, stolpern wir von Date zu Date, küssen dabei viele glibbrige Frösche oder suchen für unser Minischühchen den passenden Käsefuß und erleben doch kein Happy End. Es sei denn, wir haben unseren Traumprinzen oder die Prinzessin schon gefunden und führen das, was scheinbar immer mehr aus der Mode kommt: Eine langjährige Beziehung.

    Mir geht es so: Bald seit 5 Jahren (in Worten fünf) in einer Beziehung, habe ich keine Ahnung mehr vom Singledasein. Für’s Dating-Karussell brauche ich keine Zehnerkarte mehr, muss mir keine Gedanken mehr darüber machen, wie ich dem anderen Geschlecht im Supermarkt begegne, kann mich vielleicht sogar ein kleines bisschen gehen lassen, weil ich ja weiß, dass mich jemand so lieb hat wie ich bin und verspüre nicht den Druck, irgendwo auf dieser Welt „diesen einen Menschen“ noch finden zu müssen.

    Trend zwecks mangelnder Bedürftigkeit verpennt

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    Szene einer 5 Jahre andauernden Beziehung (Serviervorschlag, © Tanja Wesel)

    Komfortable Situation. Meine Singlefreunde beneiden mich darum sicher hin und wieder. Ich wiederum habe sie um eine gewisser Erfahrung beneidet: Tinder. Denn immer, wenn mein Singleumfeld im Rudel zusammenkommt, wird über diese eine App gesprochen. Eigentlich wird natürlich über das Singledasein gesprochen, aber seit einiger Zeit scheint diese Daseinsform untrennbar mit dieser ominösen Dating-App verknüpft zu sein. Eigentlich ist diese App, die für meine Singlefreunde das wichtigste Gadget überhaupt zu sein scheint, für mich als „Beziehungstyp“ ja die überflüssigste App überhaupt. Eigentlich.

    Trotzdem ich bin ja sowas wie ein Netzbürger. Interessiere mich für Soziale Netzwerke, für Apps, für digitale Trends und als Journalist natürlich auch für alle Formen der Kommunikation. Und als mein Bruder wieder Single wurde und auch anfing über dieses Tinder zu sprechen, wollte ich’s endlich auch wissen.

    Tinder – Wie geht das überhaupt?

    Vielleicht muss man Tinder aber zuerst noch grob erklären. Vielleicht gibt es ja Menschen in Beziehungen, für die Tinder auch der eigentlich überflüssigste Service der Welt ist. Oder vielleicht liest meine Mutter das hier und fragt sich jetzt, was ihre Söhne da auf den Smartphones haben. Also: Tinder ist laut Eigenwerbung im Google Play Store

    „Ein neues Konzept, Leute in deiner Umgebung kennen zu lernen.“

    Unter der Hand gilt es bestenfalls als Dating-Service, schlimmstenfalls als Bumms-Börse. Eins ist es aber sicher: Oberflächlich und gleichzeitig unglaublich praktisch, weil effizient.

    Wer sich die App auf’s Smartphone lädt (am einfachsten bzw. schnellsten geht das, wenn man schon einen Facebook-Account hat – ohne geht aber auch) kann ein Bild und ein Kurzprofil von sich einstellen, seine Suchpräferenzen eingeben (= lieber Männlein oder Weiblein anzeigen lassen, Altersspanne von-bis und Suchumkreis in Kilometern festlegen) und los geht’s. Über GPS-Ortung (muss immer angeschaltet sein, um den Dienst nutzen zu können), werden einem Profile von Menschen angezeigt, die den Suchkriterien entsprechen und sich in der Nähe aufhalten. Ein Wisch übers Profil nach links heißt „kein Interesse“, ein Wisch nach rechts bedeutet will-ich-kennen-lernen. Miteinander chatten können zwei Menschen mit deckungsgleichen Suchkriterien erst, wenn sie sich beide mögen, also nach rechts gewischt haben. Das verhindert, dass man von Leuten angelabert wird, an denen man selber kein Interesse hat. Eigentlich ein echter Dating-Fortschritt!

    Tinder
    Leute? Ich mag Leute!

    Nun steht bei Tinder wie gesagt nirgendwo offiziell, dass es sich bei der App um ein Dating-Netzwerk handelt. „Leute in der Umgebung kennenlernen“ – dieses harmlose Versprechen habe ich als „Vergebener“ nun also zum Anlass genommen, einen fremden und für mich eigentlich unnötigen Webservice zu erkunden. Sobald die App installiert war, konnte es auch schon los gehen. Da ich mich über mein Facebook-Konto angemeldet hatte, war das Profil auch in Nullkommanix startklar. Also fing ich an, in bester hot-or-not-Manier „Menschen in meiner Umgebung“ zu bewerten. Wer mir äußerlich gefiel und/oder einen irgendwie netten oder interessanten Profiltext hatte bekam mein Wohlwollen. Der Rest wurde aussortiert. Und prompt schrieben mich auch schon die ersten „Menschen aus meiner Umgebung“ an. Das geht ja einfach.

    Gar nicht mal so unschuldig

    Interessanter Weise waren die natürlich alle weiblich und zwischen 20 und 40 Jahren alt – weil die App dies als Grundeinstellung für mich annahm. Mein naiver Versuch, die App als Leute-Kennenlerndienst und nicht als Dating-Service/Bumms-Börse anzusehen, erlitt Schiffbruch. Das musste ich erkennen, als die Mädels mich anschrieben und auf eine andere Art kennenlernen wollten. Ich hielt es nun für besser, sie über mein Experiment aufzuklären, worauf sie ihr Interesse an mir blitzartig verloren. Bis dahin hatte ich immerhin meinen oberflächlichen Wert auf dem Transfermarkt noch austesten können – das schreib ich mir mal auf die Haben-Seite. Als mich dann aber noch eine Single-Freundin offenbar überrascht bei Facebook anchattete und mich fragte, warum ich denn bei Tinder sei (sie hatte mich da gesehen und weiß, dass ich einer Beziehung bin), wusste ich sicher: 1. Tinder ist keine unschuldige App zum Leute kennenlernen, 2. besagte Single-Freundin versucht ihren Single-Zustand via Tinder zu überwinden.

    Ich änderte also meine Strategie, schrieb folgendes in mein Kurzprofil:

    Das ist also dieses Tinder da. Vergeben und hier aus rein humanitärem Interesse.

    Das Interesse der Damenwelt an mir sank daraufhin rapider als das Niveau im RTL-Dschungel. Auf einen Versuch, neue männliche Kumpels per Tinder kennen zu lernen, habe ich nach dieser Schlappe dann generös verzichtet.

     

    *Über diesen Selbstversuch wurde meine Freundin rechtzeitig informiert. Weder Tiere, noch Gefühle kamen dabei zu Schaden. Paartherapeuten oder Scheidungsanwälte wurden nicht behelligt.

  • Dann meld Dich doch ganz ab!

    Erst übernimmt Facebook WhatsApp, dann fällt WhatsApp stundenlang aus. Selten hat die Lieblings-SMS-Alternative der Deutschen die Newsfeeds der sozialen Netzwerde so verstopft wie in den letzten Tagen. Viele, wie auch ich, haben die Übernahme von WhatsApp durch Facebook dazu genutzt, sich noch einmal nach Messenger-Alternativen umzusehen.

    Meine Facebook-Freunde hat das in zwei Lager gespalten: Dem einen Lager wird beim Gedanken daran flau im Magen, dass eine Datenkrake (Facebook) eine andere mit lange bekannten und neuen Sicherheitslücken (WhatsApp) schluckt. Die andere gehört der „das ist doch alles Hysterie!“-Fraktion an.

    Auch wenn ich in meinem direkten „Freundeskreis“ bei Facebook nur von einer Person weiß, die in ihrer Timeline die Übernahme von WhatsApp durch Facebook beklagt und ihren Wechsel zur im Moment heiß diskutierten, vermeintlich sicheren WhatsApp-Alternative Threema verkündet hat, so macht sich bei vielen Facebook-Nutzern offenbar ein Gefühl der Belästigung durch die Konfrontation mit einer Tatsache breit. Und diese Tatsache heißt: WhatsApp-Kommunikation ist fürchterlich leicht durch Dritte auszuspähen.

    ruthe, WhatsApp und Threema
    Über 14.000 Mal geteilt: Ruthes Reaktion auf WhatsApp und Threema. (© Ralph Ruthe)

    Diesem diffusen Gefühl der Belästigung hat Cartoonist Ralph Ruthe mit einer Zeichnung Ausdruck verliehen, in der sich in einer Art Selbsthilfegruppe ein Teilnehmer eines Stuhlkreises dazu bekennt, WhatsApp gelöscht zu haben und zu Threema gewechselt zu sein. Alle anderen im Kreis verleitet das zu einem verbalen „HALT DIE FRESSE!!!“-Reflex. Der Cartoon ist bisher über 14.000 mal bei Facebook geteilt worden.

    In Technik-Blogs und auch in den sozialen Netzwerken beharken sich also die „Datenschutz-Hysteriker“ und die „faulen Konsumenten“. Ich bin mittlerweile durchaus der Meinung, dass es sich zumindest lohnt, die bekannten Sicherheitslöcher bei WhatsApp im Hinterkopf zu haben und sich zu fragen: Sind 30 Millionen aktive Nutzer in Deutschland wirklich das einzige Argument, einen Dienst zu nutzen der ein Einfalltor für potentielle Schnüffler ist?

    In der Diskussion haben sich zwei Argumente derer, die das von Ruthe verbildlichte Gefühl der Belästigung durch Überlegungen von mündigen Verbrauchern beklagen, besonders häufig wiederholt:

    1. Ich habe doch nichts zu verbergen!

    Dieses Reflex-Argument geht von der Annahme aus, dass die NSA oder sonst ein Geheimdienst sich nur für spezifische Verbrechensmuster wie „Terrorist baut Bombe“ interessiert und dass alle, die keine bombenbauenden Terroristen sind, daher nicht relevant für die Ermittlungsbehörden sind. Wer also keine Bombe plant oder baut, muss sich folglich über sein alltägliches Messenger-Geplänkel mit Freunden keinen Kopf machen.

    Das gleiche Reflex-Argument hat auch so gut wie immer zur Grundlage, dass derjenige der es anbringt, davon ausgeht, dass seine private Kommunikation tatsächlich nur für hochgerüstete Sicherheitsbehörden wie die NSA oder die CIA von Interesse ist. Ich habe tatsächlich mehr als einmal als Argument für den weiteren unkritischen Umgang mit WhatsApp Sätze wie „vor meinem Fenster sehe ich noch keine Ausspähwagen der NSA“ gelesen!

    Das „Ich habe doch nichts zu verbergen!“-Argument geht also insofern an der Realität vorbei, als dass seine Verfechter davon ausgehen, dass eine klar definierte Personengruppe im staatlichen Auftrag ein Interesse an ihnen haben könnte, sie sich aber strafrechtlich nichts vorzuwerfen haben und deshalb auf Privatsphäre in der Kommunikation sowieso von vornherein verzichten können.

    Dazu mal folgendes Beispiel: Auf einem Bahnsteig filmt eine Überwachungskamera. Sie zeichnet im staatlichen Auftrag Menschen auf und gehört der Bundespolizei. Sie ist dazu da, mögliche Straftaten festzuhalten und im Anschluss zu beweisen. Bei der Durchsicht der Bänder aus gegebenem Anlass fällt aber auch ein Betrunkener im Rahmen eines Junggesellenabschieds auf, der sich in irgendeiner Art selbst zum Ei macht. Dieses Video landet – wie und warum auch immer – im Internet. Die Persönlichkeitsrechte des gefilmten sind dahin. „Das Internet“ ist voll mit solchen Videos. Überzeugt euch selbst.

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    Hinweis auf Videoüberwachung. (© Wamito)

    Genauso könnte es mit schlecht bis gar nicht verschlüsselter WhatsApp-Kommunikation eines jeden geschehen. Privates landet „auf Servern in Amerika“, wird aus welchen Gründen auch immer von einer Person ausgelesen und bietet vielleicht Anlass, diese Daten weiterzureichen. Und diese Möglichkeit besteht bei WhatsApp in der Tat – und zwar ohne, dass eine Ermittlungsbehörde tätig werden, oder ein pickliger, sich von Pepsi und Pizza ernährender Computerhacker aus China es gezielt auf euch abgesehen haben muss. Denkt mal drüber nach. Überall da wo Menschen an Informationen herankommen, ist Missbrauch leider nicht auszuschließen. Siehe das oft als Technologie-Spukgespenst durch die Medien geprügelte „Sexting„.

    2. Dann meld Dich doch ganz ab!

    Dieses Reflex-Argument ist fester Bestandteil einer „ganz oder gar nicht“-Theorie, die sich ebenso wie das „Ich hab doch nichts zu verbergen!“-Argument aus einem Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber „der Technik“ speist. Es ist gefährlich, weil es in seiner Resignation übersieht, dass eine kritische und vor allem konstruktive Auseinandersetzung mit der Datenschutzfrage für jeden ganz individuell möglich ist.

    Dem „Dann meld Dich doch ganz ab!“-Argument wohnt wieder die Annahme inne, dass man sich im Netz ja eh im rechtsfreien Raum bewegt und daher sowieso alle Privatheit von vornherein aufgehoben ist. Wem diese „Spielregeln“ nicht geheuer sind, der muss halt auf gewisse Programme, Netzwerke oder Apps oder gar gleich das gesamte Netz verzichten.

    Wenn es konkret um WhatsApp geht, wird von Verfechtern dieses Reflex-Arguments oft auf den scheinbaren Widerspruch hingewiesen, dass Menschen, die WhatsApp nicht mehr nutzen wollen, dies ausgerechnet bei Facebook verkünden und ihren Account hier nicht aufgeben wollen. Dabei ist der Zuckerberg mit seinem Facebook doch die viel schlimmere Datenkrake!

    Da ich diese letzte Ausprägung des „Dann meld Dich doch ganz ab!“ öfter sehe, möchte ich hierauf auch noch einmal kurz eingehen: Leute! Auch wenn WhatsApp jetzt zu Facebook gehört, so besteht doch (noch) ein gewisser, entscheidender Unterschied. Wer bei Facebook angemeldet ist, kennt heutzutage die Spielregeln: Er nutzt nämlich gratis ein soziales Netzwerk mit vielen Millionen Mitgliedern zum Preis von eingeblendeter, personalisierter Werbung. Er weiß also, dass der Erfolg des genutzten Angebots sich aus den eigenen preisgegebenen Daten speist und dass seine Daten hier nicht unbedingt vertraulich behandelt werden.

    Doch wie war das mit WhatsApp? Hier zahlt der Nutzer einmalig Geld für eine Dienstleistung, die man als SMS 2.0 bezeichnen kann. Keine Werbung, kaum persönliche Daten über Name und Telefonnummer hinaus, die das Programm vom Nutzer wissen möchte. Viele wähnen sich also hier in relativer Sicherheit, denn SMS konnte ja früher auch keiner mitlesen. Einen als Firmenstrategie offensiv verkauften Handel mit den persönlichen Daten des Nutzers gibt es bei WhatsApp nicht.

    Kurz gesagt: Bei Facebook kaufe ich mit meinen persönlichen Daten ein durchaus ansprechendes Netzwerkangebot. Bei WhatsApp zahle ich „Eintritt“ und gebe dazu auch noch die Kontrolle über meine Privatsphäre ab.

    Was ich persönlich aus der Debatte gelernt habe:

    Ich bin kein Datenschutz-Hysteriker. Ich sehe nicht hinter jedem Pixel eine Gefahr für Leib und Seele. Was ich aber nicht verstehe: Warum fällt es vielen im Netz eigentlich mittlerweile so schwer von einem generellen Gut der Privatsphäre auszugehen? Von einem prinzipiellen Recht auf vertrauliche Kommunikation zwischen zwei Personen?

    Wie konnte es überhaupt zu dem „Ich habe doch nichts zu verbergen!“-Argument kommen, welches genau wie das „Dann meld Dich doch ganz ab!“-Argument ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass ebendiese vertrauliche Kommunikation heute ja eh schon nicht mehr möglich ist?

    User sollten vielleicht darüber nachdenken, dass es nicht um eine konkrete Bedrohung durch Hacker, NSA oder sonst wen geht, sondern um das generelle Recht auf sichere Kommunikation.

    Ich persönlich bin übrigens noch bei WhatsApp. Aber eben auch bei Threema. Noch lullt mich die eigene Bequemlichkeit ein. Noch verleiten mich die vielen aktiven Nutzer, mich vorerst nicht gänzlich von WhatsApp zu verabschieden. Noch.

  • Fleischeslust

    Wir schreiben das Jahr 2013. Deutschland, Bildungsstandort und eine der erfolgreichsten Industrienationen der Welt, steht kurz vor der Bundestagswahl. Und was sind die entscheidenden Themen des Wahlkampfes? Schlandkette, Stinkefinger und Veggie-Day. Wobei: Für die Idee des Veggie-Day bin ich den Grünen echt dankbar, auch wenn sie sich selbst damit keinen Gefallen getan haben. Trotzdem hat die Partei damit einen Veränderung in den Essgewohnheiten mancher Menschen aufgegriffen, die zumindest schon in den Städten der Republik spürbar ist. Zumindest stelle ich fest: In meinem Freundeskreis nimmt die Anzahl derer zu, die sich über ihre Ernährung Gedanken machen.

    Außerdem bin auch ich direkt „betroffen“: Meine Freundin hat nach dem letzten Urlaub auf Texel, dem Eiland der kulleräugig-knuffeligen Lämmlein, ihren Fleischkonsum aus Mitleid gegenüber den Tieren weitestgehend eingestellt, „was mich auch zu so ’ner Art Vegetarier macht.“  Das Ganze war allerdings ein schleichender Prozess. Ich denke einen gewissen Anteil an ihrer Entscheidung hatte auch ein befreundetes Pärchen, das nicht nur vegetarisch, sondern vegan lebt – also nicht nur kein Fleisch isst, sondern auch all das, was vom Tier kommt, wie Butter, Eier, Milch, tierisches Fett oder Sahne, ablehnt.

    An dieser Stelle möchte ich – möglichst frühzeitig in diesem Artikel – Farbe bekennen, damit mich Vegetarier schon mal mit Eiern bewerfen können (Veganer greifen bitte zur Wahrung der Glaubwürdigkeit auf die Variante „faules Gemüse“ zurück): Ja, ich esse Fleisch. Wegen des Geschmacks. Ich mag Fleisch. Und: Mir ist klar, dass für das Fleisch auf meinem Teller ein Tier sterben musste.

    Lämmlein
    Erweckungserlebnis: Madame wird Vegetarierin.

    Mit dieser letzten Erkenntnis unterscheide ich mich allerdings nach einer nicht repräsentativen Erhebung meinerseits, die lediglich auf meinem Buchgefühl und nix anderem beruht, von 94,3 Prozent der Fleischfans um mich herum. Denn wir leben tatsächlich in einer Gesellschaft, in der das unkritische Verputzen großer Mengen Fleisch soziale Norm ist. Das stelle ich wertfrei fest, denn zu einem gewissen Teil haben sich unsere Großeltern das Recht auf einen reich gedeckten Tisch in Wirtschaftswunderland ja auch redlich verdient, nachdem sie unser schönes Deutschland erst eigenhändig abgerissen und anschließend unter Entbehrungen wieder aufgebaut hatten.

    Schlagt einen beliebigen Prospekt eines Discounters eures Misstrauens auf: Die Chancen, dass sich darin eine Doppelseite mit Wurst- und Fleischwaren aus der Aktionstheke findet, in der optisch die Farbe Rot dominiert, sind exorbitant hoch. Auch ich als Fleischbefürworter muss gestehen: Wirklich ansprechend lässt sich rohes Fleisch nicht fotografieren, egal wie viele Kräuter und Gemüse man danebenlegt.

    Ich persönlich habe fränkische Wurzeln und bin mit der fränkischen Wurstvielfalt und der fleischlastigen Küche der Franken und Bayern bestens vertraut. Aber wenigstens erkennt man bei denen Fleisch noch als das, was es ja nun mal letztendlich ist: Geschlachtetes Tier. Wirft man noch einmal einen Blick in besagten Prospekt des Discounters, findet man auch viele Produkte, die Fleisch sind, sich aber alle Mühe geben, nicht als solches erkannt zu werden. Ich glaube, dass tatsächliche viele meiner Freunde gar nicht mehr merken, dass sie sich schon morgens häufig Fleischprodukte aufs Brot legen oder streichen. But don’t call it a Schnitzel!

    Auf spiegel.de habe ich mal ein interessantes Interview mit einer amerikanischen Sozialpsychologin gelesen, in dem sie das System hinter dem täglichen Fleischkonsum als eine „gewalttätige Ideologie“ bezeichnet und es „Karnismus“ nennt. Mir persönlich sind diese Ansichten zu radikal. Dass tägliches Fleischessen eine soziale Norm ist, die nicht nur nicht hinterfragt, sondern auch verbissen verteidigt wird, habe ich allerdings selber schon mehrfach festgestellt. Zuletzt als meine Freundin in einem thüringer Restaurant mit eigener Schlachterei vergeblich ein warmes Essen ohne Fleisch auf der Karte suchte und dann ein „Bauernfrühstück“ ohne Speck zu bestellen versuchte. Reaktion der Kellnerin: Nach ungläubigem Glotzen, die herrlichen Worte: „Mal gucken, ob das klappt…“ Eigentlich hätte man ihr hier aufmunternd die Hand auf den Arm legen, ihr dabei tief in die Augen schauen und entgegnen sollen: „Ja, das klappt schon. Ihr Koch muss nur beim Zubereiten der Kartoffeln vermeiden, Speck mit in die Pfanne zu hauen – ich bin sicher, dass er diesen Reflex mit ein wenig gutem Willen zu unterdrücken im Stande ist, wenn Sie es schaffen, diese Bestellung – genau wie gewünscht – aufzunehmen!“ Und was soll ich sagen? Oh Wunder, es hat selbst ohne diese Worte funktioniert.

    HIT
    Willkürlich ausgewählter Auszug aus einem Discounter-Prospekt, in diesem Falle HIT. Bekommt da irgendwer Bock auf Schnitzel?

    Ein letztes Beispiel für gedankenlosen Fleischkonsum möchte ich aber noch anführen: Des Deutschen liebster Sport, das ur-männliche Grillen. Was sich da – auch in meinem Freundeskreis – an Schlachtabfällen fertig verpackt in neongelber oder -grüner Sauce auf den Rost gehauen wird, geht auf keine Kuhhaut. Unsachgemäß zerlegtes Tier, bestehend aus Sehnen und Fett, in Industriepampe ersäuft und für einen Kilopreis, der eigentlich nichts Gutes erahnen lässt, wird dann bis zur Unkenntlichkeit zergrillt, so dass das „Grillgut“ am Ende nur noch durch einen DNA-Test von der verwendeten Grillkohle unterschieden werden kann.

    Spätestens hier kann man eigentlich nur Vegetarier werden, oder sich Gedanken über die Quanti- und vor allem Qualität des eigenes Fleischkonsums machen. Ich habe genau das getan. Wenn ich grille, ist das ein seltenes Ereignis. Das liegt zum einen daran, dass ich keinen Bock habe, den Rost zu schrubben und zum anderen basiert es auf meiner Überzeugung, dass nicht täglich Fleisch auf der Speisekarte stehen muss. Daraus habe ich zwei Schlüsse gezogen: Erstens habe ich mir einen nicht ganz günstigen Kugelgrill besorgt, denn ich liebe das Zubereiten von Speisen und möchte ein gutes Ergebnis erzielen (übrigens kann man da auch Gemüse drauf legen). Zweitens: Ich kaufe mir beim Schlachter ein teures Stück Fleisch, denn wenn ich mir schon eine seltene Freude hiermit mache, dann darf es auch etwas kosten. Ich möchte hier nicht die Diskussion aufmachen, ob Bio-Fleisch jetzt gut oder schlecht ist, aber wenn ich nicht dauernd das billigste Fleisch aus dem Supermarkt kaufe, unterstütze ich wenigstens nicht die Preistreiberei der Fleischindustrie. Denn ein ganzes Tiefkühlhuhn sollte meiner Meinung nach nicht billiger sein als eine Thunfischpizza.

    Wofür ich also werbe ist ein bewussterer Umgang mit dem, was wir täglich in uns rein schaufeln. Welche Schlüsse ihr für euch dann daraus zieht, ist mir schnurzpiepegal. Ich möchte keinem ins Essen hineinreden – weder Fleischfans, Vegetariern oder Veganern. Trotzdem helfen – glaube ich – krasse Aktionen, wie die von Starkoch Jamie Oliver, als er live vor Publikum Küken vergast hat, dabei zu verstehen, woher unsere Nahrung eigentlich kommt. Der hohe Grad von Arbeitsteilung und Industriealisierung hat uns nämlich offenbar ganz schön weit von dem entfernt, was eigentlich neben Atmen unser erstes Grundbedürfnis ist: Essen und Trinken.

    Daher danke ich den Grünen, dass sie den Veggie-Day-Shitstorm zum Preis einer heftigen Fleischwunde auf sich gezogen haben. Vielleicht wähl‘ ich aber auch die Schlandkette oder den Stinkefinger, mal schauen.

  • König von Deutschland

    William und Kate kriegen ein Baby. Wahnsinn. Anfang der Woche hing die ganze Welt an den Schamlippen der Herzogin von Cambridge.

    Kate ist im Krankenhaus! Kate liegt wohl offenbar in den Wehen! Kate hat einen Sohn zur Welt gebracht! Das was sonst tagtäglich millionenfach auf der Welt geschieht wird zum globalen Medienereignis. Doch jetzt, wo die Euphorie rund um die königliche Reproduktionsfähigkeit wieder etwas abnimmt, ist es Zeit sich zu fragen: Warum interessiert uns das eigentlich?

    Gut, die Geburtenraten in den Industrieländern ist derart nach unten gekracht, dass es den Boulevardzeitungen dieser Welt schon bald vielleicht wirklich berichtenswert erscheinen könnte, wenn zwei wohlhabende und gut ausgebildete junge Menschen mit Vorsatz ein Kind in diese Welt gebären. Einer Frau aus dem afrikanischen Niger, die in ihrem  Leben statistisch gesehen siebeneinhalb Kinder in die Welt setzt, mag der Trubel um die Geburt eines Kindes hingegen etwas seltsam vorkommen.

    The Sun
    Die Titelseite der Sun. Ähhhh, Son.
    © The Sun

    Neben der spannenden Nullberichterstattung (die BILD-Zeitung hatte sogar eigens einen Webstream mit Livebildern vom Krankenhauseingang auf ihre Startseite gehievt) zu diesem furznormalen alltäglichen Geburtsvorgang hat sich die deutsche Presse natürlich wieder Gedanken gemacht, wie man das Thema „royaler Nachwuchs“ irgendwie für Deutschland „weiterdrehen“ könnte. Und rausgekommen ist – natürlich – die gute alte Umfrage „Wünschen Sie sich auch für Deutschland eine Monarchie?“

    Ich meine bei ntv eine entsprechende Umfrage gesehen zu haben, bei der sich eine absurd Hohe Prozentzahl (mein Kopf sagt: 70 Prozent) für die Monarchie in Deutschland ausgesprochen hatte. Belegen lässt sich das leider nicht mehr, dafür spuckt google aber diese feine Umfrage aus, in der sich immerhin jeder Fünfte Deutsche wünscht, von einem König regiert zu werden.

    Mein üblicher Reflex bei solchen Umfragen ist normaler Weise das schnelle Heranführen meiner Handfläche an meine Stirn, bei dem ein lautes Klatschen entsteht, das nicht für Applaus steht. Aber diesmal, noch besoffen vom Willie-und-Kate-Rummel, habe ich den Monarchiegedanken zugelassen.

    Und ich habe mich ein wenig in ihn verliebt!

    Karl-Theodor_Freiherr_von_und_zu_Guttenberg Kopie
    Karl-Theodor I.
    Krone © Ikiwaner

    Stellt euch mal vor: Man hole einen eitlen Pfau, den der Pöbel liebt, zurück auf die BILDfläche und drücke ihm eine funkelnde Krone aufs Haupt. Natürlich denke ich da an Karl-Theodor zu Guttenberg. Das nötige blaue Blut bringt er ja sowieso mit.

    Woran war Guttenberg denn gescheitert? Na daran, dass er von seiner eigenen Fehlbarkeit als Mensch und Politiker hinterrücks überrascht wurde. Als Monarch könnte ihm das nicht passieren. Er würde die Fehlbarkeit hinter sich lassen und in höhere Sphären entgleiten. Er könnte tun, was er am besten kann: Winken, lächeln, inszenieren und repräsentieren. Mit seiner Stephanie hat er die passende Prinzessin ja schon gefunden, wunderbar!

    König Guttenberg könnte sich weiterhin ungestört seinem Glamour hingeben, sich von den Massen verehren lassen und dabei kein politisches Amt beschädigen. Im Gegenteil: Er würde sogar noch vom drögen Politikbetrieb ablenken, ihm die nötige Verschnaufpause verschaffen und somit die Politikverdrossenheit im Land senken. Politiker wären wieder Staatsdiener, die im Schatten des royalen Glanzes in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen könnten.

    Monarchie in Deutschland mit KTG als König – das wäre eine Win-Win-Situation für alle: Der Pöbel hätte endlich seinen Projektionsfläche für den eigenen Wunsch nach Größe und Glanz, Guttenberg hätte eine Aufgabe, bei der nichts kaputt machen kann und die ihm wahrlich im blauen Blut liegt. Und der Staat könnte sich an offiziellem Monarchie-Tinnef gesund stoßen! Was da alles möglich wär: Königliches Guttenberg-Haargel, Guttenberg-Buchpressen und wasweißichnochalles.

    Klingt abgefahren? Ist es aber nicht. Eigentlich ist ein König für Deutschland eine rein rationale Entscheidung – ihr müsst diesen neuen Gedanken einfach nur zulassen.

    Sprecht mir nach: Lang lebe die Monarchie!

  • #uselesshoops

    Neulich war ich für meinen Brötchengeber auf Reportereinsatz im Bonner Ghetto in Tannenbusch. Der Plot, den es zu berichten gab, war in etwa wie folgt: Jugendliche/Halbstarke/Vandalen/Unbekannte waren durch den Zaun eines noch im Bau befindlichem Spielplatzes/Mehr-Generationen-Parks/heftig subventionierten Vorzeigeprojekts zur Stadtteilentwicklung geschlüpft und hatten Baumaschinen und neu aufgestellten Spielgeräte beschädigt.

    Der noch im Bau befindliche Vorzeigeplatz in Bonn-Tannenbusch.

    Das war besonders ärgerlich, weil die Stadt sich dieses Projekt rund eine Millionen Euro kosten lässt, um damit ebenjene Problemkids, die mutmaßlich die aktuellen Zerstörungen verursacht haben, von Dummheiten wie Vandalismus abzulenken. Und zwar mit Beschäftigungen wie beispielsweise Basketballspielen auf einem umzäunten Hartbodenfreiplatz mit integriertem Drainagesystem und kleiner Zuschauertribüne.

    Da ich selber ein passionierter Hobbybasketballspieler bin, hätte ich mich in meiner Jugend sicher gefreut, wenn es damals einen derart tolles und vor allem durchdachtes Basketballfeld in meinem Dorf gegeben hätte. Gab’s aber nicht. Was es gab waren meist Korbanlagen, die entweder völlig billiger Schrott waren oder – und das ist eigentlich viel schlimmer – zwar durchaus hochwertig, aber an völlig unsinnigen Orten aufgestellt waren: Auf Wiesen, Asche- oder Sandflächen.

    Doof: Ein Basketballkorb mitten auf einer Wiese.

    Man muss eigentlich kein Genie sein, um zu erahnen, dass sich ein handelsüblicher Basketball auf Wiese, Asche oder Sand nicht ganz so gut dribbeln lässt. Trotzdem schaffen es Städte und Kommunen in Basketball-entwicklungsländern wie Deutschland immer wieder relativ hochwertige und -preisige Korbanlagen auf völlig ungeeignete Untergründe zu verpflanzen und sich dann womöglich noch zu wundern, wenn diese Korbanlagen ungenutzt verwittern.

    Da könnt‘ ich jedes Mal kotzen! Und tue es innerlich auch. Jahrelang habe ich mir dieses Trauerspiel, das andere Bauskandale wie Stuttgart 21, Elbphilharmonie oder Flughafen BER locker in den Schatten stellt, kopfschüttelnd angeschaut. Und zwar ohne aufzubegehren. Doch damit ist nun Schluss! Ich tue von nun an das, was jeder engagierte Querulant macht: Ich trage meinen Protest ins Internet und hoffe, dass sich die Welt dadurch zum Besseren verändert. Ich gehe zu instagram.

    Genauso doof, aber nicht weniger selten: Ein Basketballkorb auf Sand.

    Unter dem Hashtag uselesshoops sammle ich Fotos von Korbanlagen, die an für die Ausübung des Basketballsports völlig ungeeigneten Stellen aufgestellt wurden. Damit schreie ich meinen Schmerz in die Welt hinaus und verschaffe diesen kaum beachteten Bauskandalen die Öffentlichkeit, die sie verdienen!

    Und ihr könnt mitmachen: Wenn ihr solche Korbanlagen der geistigen Umnachtung kennt, dann schreibt mir mit Ortsangabe der Bausünde: post(ät)der-mack.de!

    Oder macht direkt ein Foto davon und packt #uselesshoops, das Hashtag der Schande, dazu.

  • Die Entdeckung der Langsamkeit

    1001 PS. Von Null auf Hundert in zweieinhalb Sekunden. Eine im Fahrzeugschein eingetragene Höchstgeschwindigkeit von 407 Stundenkilometern.

    Erster Gedanke: Geil.

    Zweiter Gedanke: Geil.

    Dritter Gedanke: Was so ein Auto wohl kostet?

    Vierter Gedanke: Ok, ganz schön teuer. Wer braucht sowas überhaupt?

    Um es mal aufzulösen: Wir reden über das schnellste für den Straßenverkehr zugelassene Serienauto der Welt, den Bugatti Veyron 16.4. Rund zwei Millionen Euro – je nach Ausstattung – muss man allerdings für diesen feuchten Traum der Kraftstoffindustrie auf den Tisch legen. Das macht die ganze Sache für die meisten von uns schon deutlich weniger sexy.

    Realistisch betrachtet braucht dieses Auto kein Mensch: In so gut wie jedem zivilisierten Land der Welt sind Reisegeschwindigkeiten von über 400 Stundenkilometern abseits der Schiene eher unrealistisch. Außer vielleicht in Afghanistan, dem Libanon, Nordkorea und auf der Isle of Man. Hier kennen die Eingeborenen nämlich kein generelles Tempolimit.

    Bugatti
    Der feuchte Traum der Kraftstoffindustrie: Der Bugatti Veyron 16.4 (© M 93)

    Mit 400 Sachen auf dem Tacho unterwegs sein: Das kann man – und ihr ahnt es schon – auch in Deutschland. Zumindest auf manchen Autobahnen. Hier gilt zwar eine freundliche Empfehlung des Gesetzgebers, die so genannte „Richtgeschwindigkeit“ von 130 km/h. Dran halten muss sich aber niemand.

    Warum aber ist das so? Warum kann man in Deutschland auf fast der Hälfte des Autobahnnetzes – immerhin also auf rund sechseinhalb Tausend Kilometern Länge – rasen wie ein Bekloppter? Und warum kann man genau das in allen anderen EU-Ländern und eigentlich auch an fast jedem anderen Fleck unseres großen Erdenrunds nicht?

    Ich muss gestehen, dass ich mir diese Frage lange nicht gestellt habe. Schließlich ist man mit dem deutschen Ist-Zustand aufgewachsen und ihn schlichtweg gewohnt.

    Trotzdem muss man selbst keinen 1000 PS-starken Supersportwagen in der Garage geparkt haben, um zu bemerken, dass die Höchstgeschwindigkeit des eigenen Fahrzeugs in kaum einem anderen Land (außer in Deutschland) erreicht werden darf.

    Beim Urlaub in Schweden mit dem eigenen PKW: Höchstgeschwindigkeit: 120 km/h.

    Beim Urlaub in den Niederlanden: 130 km/h.

    Ich will hier jetzt gar nicht groß Statistiken mit Verkehrstoten rauskramen oder den Umweltaspekt bemühen, sondern da ansetzen, wo man denkende Menschen hoffentlich packen kann: Bei der Vernunft.

    In beiden Urlaubsländern ist mir als deutscher Bleifuß nämlich aufgefallen, wie wunderbar entspannt es sich mit einer Tempo-Obergrenze von 120 oder 130 km/h fahren lässt:

    Tempomat rein, Stress raus. Während ich auf unbegrenzten deutschen Autobahnen stets bemüht bin so schnell wie möglich vom Fleck zu kommen und jedes Mal fast das Lenkrad verschlucke, wenn bei Tempo 170 jemand von rechts mit Tempo 130 auf meine Spur zieht, ist der Straßenverkehr in Schweden oder Holland ein faires Spiel unter Gleichberechtigten: Niemand fährt deutlich schneller als der andere, der Verkehr plätschert friedlich vor sich hin, der Blutdruck bleibt auf WHO-Empfehlungslevel.

    Tempolimit
    Freundliche Empfehlung ohne Konsequenz: Die Richtgeschwindigkeit auf deutschen Autobahnen.

    Positiver Nebeneffekt: Der Spritverbrauch ist in Ländern mit Tempolimit deutlich geringer! Das konnte ich ganz deutlich am Durchschnittsverbrauch meines Autos während und nach dem Urlaub ablesen. Eine Beobachtung, die übrigens auch der spiegel gemacht hat: Eine Teststrecke von 700 km wurde zwei mal gefahren. Einmal so schnell es ging und einmal mit Richtgeschwindigkeit. Ergebnis: Mit Bleifuß wurden 20 Liter mehr verblasen, die Zeitersparnis lag aber nur bei rund einer halben Stunde.

    Ein Ergebnis, das besonders mit Blick auf die Preistafeln der Tankstellen überzeugt!

    Objektiv betrachtet gibt es also keinen einzigen guten Grund, warum es auf deutschen Autobahnen weiterhin erlaubt sein sollte das Gaspedal bis zum Erdkern durchzudrücken.

    Stellt man sich aber hierzulande öffentlich hin und tritt – vernünftiger Weise – für ein generelles Tempolimit ein, sticht man direkt ins Wespennest der Benzinjunkies und PS-besoffenen. „Freie Fahrt für freie Bürger!“ schallt es dann wie selbstverständlich, als hätte man verpasst, dass es offenbar ein Grundrecht auf Raserei gibt.

    Lustiger Weise belächeln nicht selten genau die Menschen, die schnelles Autofahren für ein Bürgerrecht mit Verfassungsrang halten, das laxe Waffenrecht der USA. Dabei ist der Grad der Idiotie in beiden Ländern vergleichbar: Auf der einen Seite der schießwütige Amerikaner, der sich das Recht aufs Ballern nicht nehmen lassen will – und auf der anderen Seite der bleifüßige Deutsche, der schnelles Autofahren für einen Stützpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft hält.

    Die Autofahrerlobby ist dementsprechend in Deutschland ähnlich machtvoll und einflussreich wie die Waffenlobby der USA. Was dem Ami die National Rifle Association ist, ist dem Deutschen der Allgemeine Deutsche Automobil-Club. Ich selber bin übrigens seit meinem 18 Lebensjahr Mitglied des ADAC. Hier ebenso selbstverständlich wie der Umgang mit Schusswaffen in den USA.

    Nun haben Schusswaffen allerdings gegenüber dem Automobil einen klaren Imagenachteil und vermutlich kommen durch Autos auch weniger Menschen ums Leben, als durch Knarren. Da aber trotz aller kranker Gewalttaten in Amerika ein generelles Waffenverbot immer noch so weit von der Realität entfernt ist wie der 1. FC Köln vom Gewinn der Champions League, mache ich mir erst recht keine Hoffnungen auf ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen.

    Aber man wird ja mal träumen dürfen.

  • Ein Hoch auf die Spießigkeit!

    In einem schwarzen Fotoalbum mit ’nem silbernen Knopf.
    Bewahr ich alle diese Bilder im Kopf.
    Ich weiß noch damals, als ich jung und wild war im Block.
    Ich bewahr mir diese Bilder im Kopf.

    Sido. War das nicht dieser Typ mit dem Arschficksong? Dieser Typ mit der Maske, der den Weihnachtsmann kalt machen wollte? War das nicht früher mal dieser Typ, den wir beim Radio mit unserem „best(getestet)en Mix“ nie, aber auch wirklich nie gespielt hätten, aus Angst unsere Hörer könnten vorzeitig ableben?

    Verrückte Welt: Plötzlich läuft Sido auch „in Ihrem Lokalradio“ und alle nicken sie mit. Es gibt nur zwei Erklärungen für dieses Wunder:

    1. Rap/Hip-Hop ist gesellschaftsfähig geworden.
    2. Sido ist gesellschaftfähig ein langweiliger Spießer geworden.

    Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Fakt ist: Sido, 32 und mit bürgerlichem Namen Paul Hartmut Würdig geheißen, ist mittlerweile verheiratet und hat ein Kind. Und immer nur den postpubertären Großstadtrüpel zu geben wird ja auf Dauer auch irgendwie langweilig.

    Seltsamer Weise sind mir aus meinem Nebenfachstudium der Germanistik ( = Bücher lesen und drüber quatschen) ein paar Sätze im Gedächtnis geblieben. Sie stammen von Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, der ähnlich wie Sido einen etwas kürzeren Künstlernamen bevorzugte: Novalis. Die Sätze gehen – frei kombiniert – jedenfalls so:

    Vielleicht lieben wir alle in gewissen Jahren Revolutionen […] Aber diese Jahre gehen bei den meisten vorüber.

    Mit der Verheiratung ändert sich das System. Der Verheiratete verlangt Ordnung, Sicherheit und Ruhe […] Er sucht eine echte Monarchie.

    Spießig: Feste Freundin.
    Spießig: Feste Freundin.

    Da ist Oppa Sido nicht weit, wie er mit seiner verblichenen Maske in einer Wohneinrichtung für Senioren sitzt, lauwarme Jacobs Krönung durch die Dritten zieht, seine Stützstrümpfe zurechtrückt und sentimental durch sein Fotoalbum mit ’nem silbernen Knopf blättert: „Früher war alles besser, Kinder. Wir hatten ja nix!“

    Ernsthaft: Sidos Bilder im Kopf (konserviert und archiviert, paraphiert und nummeriert) sind analog! Obwohl Sidos Album einen kecken Hashtag im Titel führt, ist es als Best-Of doch eine Retroperspektive. Heißt: Oppa erzählt vom Krieg.

    Fakt ist: Sido bekennt sich mittlerweile zum Spießertum und fährt gut damit. Das hat er in einem Interview mit der WELT bestätigt, das hat seine Frau in einem Interview mit der WELT bestätigt.

    Und auch ich find’s geil! Ja, wirklich: Mir gefällt der neue Sido. Musikalisch wie inhaltlich. Da zieht jemand Zwischenbilanz und ist im Großen und Ganzen zufrieden mit sich.

    Auch ich bekenne mich öffentlich zum Spießertum! Ich lebe in einer festen Beziehung, koche gerne, mag Gesellschaftsspiele und fühle mich mittlerweile auf WG-Feten deutlich wohler als in Discos/Clubs.

    Als ich neulich mit meiner Freundin beim abendlichen Zappen in eine dieser RTL2-„Dokus“ geraten bin, in der sich eine Horde hormonüberfluteter Hackfressen bei ihren erbarmungswürdigen samstagabendlichen Balzversuchen filmen ließen, war ich schlagartig heilfroh, dass ich in einer spießigen Beziehung lebe und nicht halbbesoffen irgendwelchen aufgetakelten Tussis im Halbdunkel beim in-die-Ohren-Brüllen ins Gesicht spucken muss, weil Usher mit 600 db jeden menschlichen Kommunikationsversuch im Ansatz erstickt.

    Spießig: Kochen.
    Spießig: Kochen.

    Ernsthaft: Hab nie verstanden, warum ausgerechnet die Disco ein Ort sein soll, an den man Menschen kennen lernen kann…

    Danke Sido, dass ausgerechnet Du jetzt der Botschafter für Werte und Spießigkeit bist! Der Airplay-Einsatz im so genannten „Dudelfunk“ erhebt Dich auf eine Stufe mit Reihenhaus, Volvo und Schrebergarten und zeigt auch, dass die Zeit vorbei ist, in der man mit Rap noch provozieren konnte. Gangsta-Rap ist tot, die Fans von einst ziehen ihre Hosen hoch und gründen Familien (in diesem Falle ziehen sie die Hosen wohl noch mal kurz runter) oder erleben schon die erste Scheidung.

    Ich erkenne mich in Dir wieder Sido – und find’s gar nicht mal schlimm.

  • Polnischer Abgang

    Am Wochenende hatten wir Weihnachtsfeier vom Sender. Während des Essens lullte uns unerbittlich seichte Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern des Restaurants ein. Die Woche steckte mir ohnehin schon in den Knochen, die Weihnachtsgans und der Alkohol taten ihr Übriges – mir fielen fast die Augen zu. Mir wurde schlagartig klar, dass ich den Rest des Abends nur unter Zuhilfenahme von viel mehr Alkohol überstehen würde, was sicher negative Auswirkungen auf meine Leistungsfähigkeit am Folgetag hätte. Als sich dann auch noch das Horrorwichteln in unerträgliche Längen zu ziehen drohte, weil selbst der Spielleiter von den eigenen Spielregeln überfordert war, besann ich mich auf ein altes Mack’sches Partymanöver, das ich schon lang nicht mehr angewendet hatte: Den polnischen Abgang.

    Für alle, denen diese Feinheit des gesellschaftlichen Umgangs vielleicht nicht bekannt ist: Mit „polnischer Abgang“ bezeichnet man das unangekündigte Verschwinden von einer Fete, ohne sich vorher zu verabschieden. Eine scheinbar sehr beliebte Form der sozialen Nicht-Interaktion, gibt es doch sogar eine eigene facebook-Fanseite für den polnischen Abgang. Dort heißt es:

    Bedeutet sich heimlich davon zu machen ohne sich von anwesenden Personen verabschieden zu müssen. Die Bezeichnung des polnischen Abgangs leitet sich von der Redewendung „sich davon stehlen“ ab.

    Und:

    Der polnische Abgang zählt zur klassischen Risikosteuerung. Er dient der Schadensbegrenzung beim Clubbing: der Handelnde (temporärer Pole) muss sich aus gesundheitlichen Gründen dem fortgeschrittenen, hedonistischen Treiben kurzfristig entziehen. Die mentale und/oder physische Kraft, andere davon in Kenntnis zu setzen UND gar noch davon zu überzeugen, ihn NICHT von seinen Plänen abzubringen, ist äußerst risikobefangen. Der polnische Abgang ist die einzige sichere Chance, ohne erhebliche Verluste aus der Szene ‚rauszukommen.

    Der polnische Abgang hilft also die Kernproblematik eines jeden Abschieds von einer Feier zu nivellieren: Das lästige „Bleib doch noch!“, „Abknicker!“ und „Warum denn jetzt schon?!“, das einem entgegenschallt, wenn man seinen Entschluss die Festivität zu verlassen versehentlich öffentlich kundtut. Lange Verabschiedungsorgien, die einen gerne schon mal den letzten Nachtbus verpassen lassen, entfallen mit dem polnischen Abgang ebenfalls. Außerdem bleibt man im Gespräch, denn alle werden sich fragen, wo man plötzlich hin ist und sprechen einen garantiert bei nächster Gelegenheit auf das mysteriöse Verschwinden an.

    Hätte beispielsweise der junge, aber offensichtlich als einziger in seinem Freundeskreis berufstätige Partyhengst aus der Nivea-Werbung von den phantastischen Möglichkeiten gewusst, die so ein polnischer Abgang bietet, dann hätte er sich die 8,99 für die reanimierende Gesichtspampe schenken können:

    Interessanter Weise scheint der polnische Abgang innerhalb des gesamten westlichen Abendlandes bekannt zu sein: Selbst urbandictionary.com, das Internetlexikon für englisch-sprachige Slang-Termini kennt den „polish exit„. Hier finden sich auch die sieben goldenen Regeln des perfekten polnischen Abgangs (wobei Regel fünf natürlich streng genommen keine wirkliche Regel ist…):

    1. Be sneaky.
    2. No guilty conscience.
    3. Don’t tell anyone.
    4. Take advantage of the moment.
    5. An anounced polish finish is a czech finish.
    6. Don’t turn around.
    7. Turn off your phone.

    Im altehrwürdigen Oxford Dictionary wird der polish exit allerdings als „french leave“, also „französischer Abgang“ bezeichnet. Hier findet sich übrigens auch der überaus witzige Hinweis, dass der „french leave“ im Französichen als „filer à l’Anglaise„, also „verschwinden im englischen Stil“, bekannt ist.

    Ein perfekter polnischer Abgang ist mir bei der Weihnachtsfeier aber offenbar nicht geglückt: Als ich schon im Treppenhaus auf dem Weg nach unten war hörte ich die schon leicht angeschlagene Stimme eines Kollegen aus der Lautsprecheranlage eine Etage über mir säuseln: „Christian Mack verlässt das Gebäude!“