Zeitmaschine

Die Zeit wird kommen, in der mich mein eigener Nachwuchs fassungslos anstarren wird, nachdem ich ihm mitgeteilt habe, dass ich früher Musik auf CDs und Filme auf DVDs geschaut habe. Für noch irritiertere Blicke wird dann meine Aussage sorgen, nach der ich ganz früher sogar noch Musik auf Kassette abgespielt und aus dem UKW(!)-Radio aufgenommen habe und mich auch noch an eine Zeit erinnern kann, als Texte auf Schreibmaschine (ohne @-Zeichen!) geschrieben wurden und Telefone noch eine Wählscheibe hatten.

Ich werde mir dann zwar steinalt vorkommen, aber das ist dann halt so. Vielleicht kommt mir die analoge Einöde dann in der Rückschau sogar wie das Paradies vor, wenn ich mit tränenverklärtem Blick an das rauschige Bild einer VHS-Kassette zurückdenke. Gegen technischen Fortschritt ist natürlich generell nichts einzuwenden, aber ich muss schon zugeben, dass Technologiestandards noch nie so kurzlebig waren wie heute.

So wie meinen ungeborenen Kindern ging es mir neulich auch mal: Davon wie Papa beinahe den Deutschrock erfand habe ich an anderer Stelle zwar schon berichtet. Trotzdem muss ich hier zum allgemeinen Verständnis noch einmal einen Kurzabriss dieser Episode geben: Im Nachlass meines Papas fanden sich einige Tonbänder. Und zwar die „guten alten“ 1/4 Zoll-Rollen, die später durch die etwas handlichere Musikkassette abgelöst wurden. Eine Technik vor meiner Zeit also.

Auf diesen Bändern fanden sich Aufnahmen von einer Band, in deren Gründungsphase mein alter Herr mitgewirkt hatte. Eine Band aus der Ursuppe des Deutschrocks. Einer Zeit, in der Udo und die Scherben noch mit der Rassel um den Weihnachtsbaum gesprungen sind (um es mal stark verkürzt auf die Spitze zu treiben). „Ihre Kinder“, wie sie sich später nannten, wagten etwas damals sprichwörtlich unerhörtes: Rockmusik mit deutschen Texten. Der ganz große Erfolg und wahrscheinlich auch die nötige Anerkennung blieb der Band verwehrt, auch wenn sie (schon nach dem Ausstieg meines Papas) mehrere LPs (wieder so ein altertümliches Wort!) rausbrachte, um dann später im Streit mit dem Produzenten auseinander zu brechen.

Papa am Bass
Papa als 19-Jähriger.

Mit dem Demotape in den Händen, mit dem die Band später einen Plattenvertrag an Land ziehen sollte, stand ich anfangs etwas hilflos da: Schließlich fehlte mir ein geeignetes Abspielgerät, ganz abgesehen davon, dass ich überhaupt nicht wusste, wie man ein solches Band einlegt, abspielt oder gar flickt. In meinem ersten Forscherdrang, dem der erste Blog-Artikel über die Gründungsphase der „Kinder“ entstammt, war die Beherrschung der altertümlichen Technik aber etwas, das ich getrost vernachlässigen konnte. Schließlich hatte ich einen netten Radiokollegen gefunden, der mir das Band auf hohem technischen Niveau digitalisieren konnte.

Das Problem damals: Die Bandmaschine des Kollegen konnte die Geschwindigkeit, mit der das Band ursprünglich aufgenommen war, nicht wieder geben. Das Problem habe ich damals in der Nachbearbeitung gelöst. Trotzdem gelang es mit besagtem Gerät nicht, ALLE Demolieder des Bandes hörbar zu machen, weil mein Vater das Band auch mehrfach in diversen Geschwindigkeiten überspielt hatte (ich erspar euch mal technische Details).

Kurz gesagt: Die Lösung des Problems war der Kauf einer Studer ReVox-Bandmaschine aus den späten 60ern. Ich hatte nämlich neben dem noch nicht ganz ausgereizten Demoband noch einen Haufen weiterer Bänder von Papa geerbt, die ich bis zum jetzigen Zeitpunkt immer noch nicht alle durchhören konnte. Jetzt musste ich mich der alten Technik stellen und zum Glück hatte der ebay-Händler noch eine Kopie der alten Bedienungsanleitung dazugelegt.

Ich wills gestehen: Ich habe mich vermutlich im Umgang mit den Bändern angestellt wie der sprichwörtlich erste Mensch. So wie ich mich heute über 14-Jährige lustig machen würde, die nix mit einer Telefonwählscheibe anfangen können, hätte ich wohl auf meinen Vater gewirkt, wenn er das Elend hätte mit ansehen müssen. Nach einem ganzen Bandsalatbuffet und mehreren Kilometern von Hand zurück aufgewickeltem Band, weiß ich aber immerhin jetzt wie’s geht.

Jedes Mal wenn ich die schwergängigen Knöpfe der Bandmaschine drücke, komme ich mir vor, als ob ich eine Zeitmaschine bediene. Denn ich reise tatsächlich zurück in die Jugend meines Vaters, höre was er sich von eigenen Platten oder von Freunden aufgenommen hatte. Vor allem konnte ich aber die Musik, die er als knapp 20-Jähirger selbst gemacht hat, wieder „auf die Bühne bringen“. Ein Stück Auferstehung also.

Ein Revival vor meinem Ohr feierte zum Beispiel ein fast 50 Jahre alter Sound: Auf einem der Bänder war nämlich ein Mitschnitt eines Auftritts von „Empire State Building“ in Herzo Base aus dem Jahr 1967. Die Band, die da spielte, verdiente sich ihre Kohle sozusagen als Live-Jukebox. Sie spielte Blues-, Rock- und Soulklassiker der Zeit vor amerikanischen Soldaten.

[soundcloud id=’139525949′]

Ich kann mir jetzt also die Mukke anhören, mit der mein 19-jähriger Vater vermutlich sein Taschengeld aufgestockt hat. Gleichzeitig kann ich aber auch der Metamorphose einer Band beiwohnen. Und zwar vom Zitieren amerikanischer Tanzmusik-Vorbilder zum Erschaffen eines eigenen, neuen Ausdrucksmittels. Denn aus „Empire State Building“ wurden wenig später „Ihre Kinder“.

Damals stand die Band vermutlich vor ihrem kreativen Schub, aus dem letztlich der deutschsprachige Rock hervorging. Ich höre also den Übergang vom Imitieren zum Generieren. Spannend!

Was mir mit meiner „neuen“ Bandmaschine aber auch noch gelang, war das wieder-hörbar-machen von zwei weiteren „Ihre Kinder“-Songs, die es aus dem Demostatus heraus nie zu einer Veröffentlichung geschafft hatten.

—An dieser Stelle waren die beiden Songs über soundcloud in den Artikel eingebunden—

Vielleicht wurden diese beiden Songs von der Band oder der Plattenfirma damals verworfen, weil man eine zu große Nähe zum Schlager fürchtete, von dem man sich damals ja gerade absetzen wollte.

Neben diesen Entdeckungen im Audioformat habe ich aber auch über den ersten Blogartikel zum Thema viele Menschen kennen gelernt, die damals Zeugen der Nürnberger Musikszene oder gar Freunde und Bekannte meines Vaters waren. Menschen, die er als Jugendlicher kannte, die vielleicht sogar zu seinem Freundeskreis gehörten und die er später vermutlich aus den Augen verloren hat. Mit einigen bin ich über die Zeitreisen mit meinem Tonbandgerät in Kontakt gekommen und mit manchen bin ich jetzt sogar bei facebook befreundet oder habe Mails mit ihnen ausgetauscht.

Und obwohl all diese Menschen – und das meine ich jetzt wirklich liebevoll – alte Säcke sind, komme ich erschreckend oft nicht umhin, sie mir in ihren Zwanzigern vorzustellen. Eben so wie mein Vater sie kannte. Mein Vater, der jetzt auch ein alter Sack wäre. Dann muss ich mich kurz zusammenreißen und mich zwingen, wieder im Jahr 2014 aus meiner Zeitmaschine auszusteigen. Eine Zeit, in der man mit über das Internet gekaufter, 50 Jahre alter Technik in die Vergangenheit eintauchen und über ebendieses Internet mit Menschen aus dieser Zeit kommunizieren kann.

Meine Kinder werden das sicher bald ganz schön altmodisch finden.

+++UPDATE 08. April 2014+++

Nach ursprünglicher Zustimmung hat der Urheber der „Ihre Kinder“-Songs sein Ok für die Veröffentlichung wieder zurückgezogen, weshalb sie hier nicht mehr zu hören sind. Die Tracklist des Demobands sieht wie folgt aus:

  1. Morgens*
  2. Wo gehst Du hin?
  3. Schwarzer Peter
  4. Plastiki und Plastika
  5. Kinderspiel
  6. Schwarzer Engel
  7. Was kann ich denn dafür?*
  8. Madame
  9. Denn er ließ sie einfach steh’n*
  10. Die Da Du, der Flötenspieler
  11. Wenn Liebe das ist
  12. Der Clown
  13. Wenn es sowas auch vielleicht nicht gibt*
  14. Hallo Sie
  15. Der kleine König
  16. Mädchen
  17. Schwarzer Peter (Alternativversion)
  18. Die Da Du, der Flötenspieler (Alternativversion)
  19. Blumenmädchen*
  20. Kinderspiel (Alternativversion)
  21. Wo gehst Du hin? (Alternativversion)
  22. Morgens (Alternativversion)*
  23. Hallo Sie (Alternativversion)
  24. Der Jahrmarkt des Lebens*

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