Kategorie: Tagebuch

  • Ich bin gesichtsblind

    Ich bin gesichtsblind

    In meiner Abizeitschrift war neben dem obligatorischen Steckbrief zu jedem einzelnen Schüler der Stufe auch eine fiese Denunziations- Klatschspalte abgedruckt, in der die Mitschüler anonym etwas über die betreffende Person sagen konnten. Unnötig zu erwähnen, dass  unter der Rubrik „Und das sagen Deine Mitschüler über Dich“ bei unbeliebten Schülern schnell unschöne Dinge zusammen kamen, die man seiner Schwiegermuddi in Spe eines Tages lieber nicht zeigen würde.

    Unter meinem Grinsefoto stand in besagter Rubrik neben anderen kleineren Gemeinheiten der mysteriöse Satz:

    „Siehst Du uns eigentlich?“

    Bis heute weiß ich natürlich nicht, wer diese Frage an mich formuliert hat und es ist mir auch von Herzen wurscht. Ich muss aber gestehen, dass ich noch lange nach dem Abi gerätselt habe, was diese Frage denn nun genau zu bedeuten hat.

    Mach mal den Test hier!

    Unser zehnjähriges Abi-Jubiläum liegt jetzt auch schon wieder ein paar Jahre zurück und die oben zitierte, an mich gerichtete Frage hatte längst aufgehört mir Kopfzerbrechen zu bereiten, als mein Bruder mir eines Tages eine Mail schickte, in der er berichtete, dass er im Netz einen Artikel über Menschen gefunden habe, die außergewöhnliche Fähigkeiten hatten. Und zwar auf dem Gebiet des Gesichter-merkens. Er habe da recherchiert und einen Test des Birbeck Colleges der renommierten University of London gefunden mit dem er seine These, wonach auch er sich sehr gut Gesichter merken könne, nun wissenschaftlich erhärten könne.

    Unterschiede

    Nun ist es so, dass mein Bruder und ich uns in unserem Sozialverhalten tatsächlich stark voneinander unterscheiden: Während er sehr gut auf Leute zugehen kann und dauernd überall neue Freundschaften knüpft, ist genau das eher nicht so meins. Wenn ich früher auf einer Party niemand kannte, kam ich schwer mit Leuten ins Gespräch. Die Fähigkeit zum Smalltalk habe ich erst nach 10 Monaten Zivildienst im Altenheim erlernt. Wenn Du da mit 90-jährigen Omis nicht lernst übers Wetter zu plaudern, dann schweigst Du halt 10 Monate. Wollte ich nicht, deshalb lernte ich, über meinen Schatten zu springen. Mein Bruder musste sich diese Fähigkeit anscheinend aber nie erarbeiten, er hatte sie einfach.

    Gesichter merken fiel mir schon immer schwer

    Dass ich mir nicht so gut Gesichter merken oder diese wiedererkennen kann, ist mir schon immer irgendwie bewusst gewesen. Im Gegensatz zu meiner Unfähigkeit mir Namen zu merken, beruht diese Schwäche aber nicht auf Faulheit, sondern auf ehrlichem Unvermögen. Als mein Bruder mir in besagter Mail schrieb, er habe den Test zum Gesichter-erkennen gemacht und dabei 100 Prozent Erfolgsquote gehabt und mich dann auch noch fragte, ob das bei uns in der Familie vielleicht genetisch sei, schwante mir schon, dass wir beide hier wohl unterschiedliche Testergebnisse einfahren würden.

    Ich schrieb:

    Den Test mach ich später mal und prognostiziere für mich ca. 0 %.

    Und fügte noch hinzu: „Ich bin voll gesichtsblind!“ Zwinker-Smiley.

    Unterdurchschnittlich

    Foto aus dem Test der Uni London (© Birkbeck, University of London)

    Im Test bekommt man in einem ersten Schritt ein menschliches Gesicht aus drei Perspektiven zu sehen. Es handelt sich um schwarz-weiß Fotos echter Menschen, bei denen nur Kinn, Mund, Nase, Augen, Wangen, Stirn zu sehen sind. Keine Ohren, keine Frisuren. Nachdem man diese drei Perspektiven gesehen hat, werden einem drei weitere Köpfe gezeigt und man muss über die Tastatur die Nummer des Kopfes auswählen, den man zuvor gezeigt bekommen hat.

    Bis dahin noch easy und keiner Herausforderung. Danach wird’s aber schwieriger: In einem zweiten Schritt bekommt man für 20 Sekunden 6 der Gesichter zu sehen und muss dann danach aus drei Gesichtern eins auswählen, was man zuvor erkannt hat. Dabei werden aber die Gesichter von drei Seiten gezeigt (links,rechts, vorne).

    Spätestens hier war ich auf wildeste Mutmaßung angewiesen und drückte einfach irgendwelche Tasten. Die Testauswertung am Ende war für mich ähnlich verheerend wie Trumps Bilanz als Präsident.

    Your accuracy in the experiment was: 60%

    The average score on this test is around 80% correct responses for adult participants.
    A score of 60% or below may indicate face blindness.

    Autsch.

    Die sind doch alle uniformiert

    Ich begann nachzudenken und zu reflektieren. Am Ergebnis des Tests gab es keinen Zweifel: Beim ZDF Vorabendkrimi neulich hielt es der Regisseur für eine tolle Idee, zwei Hauptrollen mit jungen rothaarigen Frauen zu besetzen. Wer macht denn sowas?!? Ich jedenfalls hatte Probleme, der Handlung zu folgen. War das nicht die Freundin von dem einen Typ da, der…? Ne, doch nicht. War die Andere. Hä?

    Erst kürzlich habe ich beruflich einen Vortrag auf einer Management-Tagung gefilmt, bei dem ich im Anschluss noch Stimmen zum Vortrag für eine Umfrage mit der Kamera einzufangen hatte. Dummer Weise war dort direkt nach dem Vortrag Mittagspause, weshalb plötzlich alle Anzugträger wild durcheinander wuselten und ich erhebliche Mühe hatte, mir zu merken, wen von den ganzen Gestalten ich schon nach einem O-Ton gefragt oder sogar schon vor der Kamera hatte. Was müssen die auch alle Business-Tarn von Hugo Boss tragen, ehrlich!

    Ich bin gesichtsblind/habe Prosopagnosie

    Sehen für mich alle gleich aus.[Игорь Мухин (CC BY-SA 3.0)]

    Bevor ihr euch jetzt fragt, ob ich euch beim nächsten Wiedersehen wohl noch erkennen werde: Ja, werde ich. Nein, ich bin nicht dement. Auch wenn ich im Bus oder auf dem Flur mal an euch vorbeirenne, bin ich nicht arrogant – ich erkenne nur nicht immer jeden sofort.

    Gesichtsblindheit ist tatsächlich eine Art „Krankheit“ oder besser: eine Schwäche und nennt sich wissenschaftlich Prosopagnosie. Bedeutet aber ganz und gar nicht, dass ich absolut keine Gesichter erkennen kann.

    Ich muss mich lediglich mehr anstrengen Personen zu identifizieren. Ein Gesicht ist für mich erst mal kein Wert an sich. Wenn ich Personen unterscheiden will, helfen mir dabei meist Faktoren wie Frisur, Haut- oder Haarfarbe, Kleidung, Statur, Stimme, Mimik oder Gestik. Manchmal sogar Geruch. Aber eher selten.

    Wenn also jemand, den ich zum ersten Mal sehe, eine besonders große Nase hat, blond und einen Meter achtzig groß ist, dann erkenne ich ihn problemlos wieder – es sei denn er steht zufälliger Weise genau neben jemandem, der auch eine besonders große Nase hat, blond ist und einen Meter achtzig groß. Dann wirds für mich knifflig.

    Für mich persönlich völlig undurchschaubar sind dann Sendungen wie „Germanys Next Topmodel“ oder „Der Bachelor“: Das dort propagierte Schönheitsideal von jungen, symmetrischen, langhaarigen und langbeinigen Supermodel-Frauen macht eine Unterscheidung der Teilnehmer für einen Prosopagnostiker wie mich schon mal ziemlich schwer. Und dann stylen die sich ja auch noch dauernd um, verändern ihren Look – Tarnkappe hoch zehn! Gut, auf der anderen Seite ist von solchen Sendungen ja eh keine anspruchsvolle Handlung voller intellektueller Verflechtungen zu erwarten – da fällt es dann gar nicht auf, da ist es ja eh irgendwie Teil des Konzepts, dass alle Barbies gleich aussehen.

    Und wenn wir schon mal beim Thema Intellekt sind: Ganz witzig finde ich übrigens, dass Hochbegabte besonders oft von Prosopagnosie betroffen sein sollen. Behauptet jedenfalls der WDR.

    Irreführende Bezeichnung

    Das Wort „Gesichtsblindheit“ bzw. die Formulierung „gesichtsblind sein“ ist tatsächlich etwas irreführend: Beides suggeriert, dass man seine Mitmenschen nicht wiedererkennen kann. Dieses generelle Unvermögen haben aber nur Menschen mit einer schweren Hirnschädigung. Sie können Gesichter wirklich nicht erkennen  oder verlieren die Fähigkeit zur Gesichtserkennung und -zuordnung.

    Das ist bei mir natürlich nicht der Fall. Nimmt man mir aber – wie im Test der Uni London – durch schwarz-weiß Fotos Faktoren wie Augen, oder Hautfarbe weg, nimmt man mir Frisuren und Ohren, dann komme ich bei Gesichtern ins Schwimmen. Dann versuche ich mir zu merken, ob der Mund schmal ist, oder die Wangenknochen ausgeprägt. Ob die Augenbrauen buschig sind oder die Nase breit. Kurz gesagt: Ich entwickele Strategien, um klar zu kommen.

    Und deshalb ist mir wie vermutlich vielen Prosopagnostikern bisher nie so recht bewusst gewesen, dass mir etwas fehlt. Da draußen laufen also mit Sicherheit ganz viele „Gesichtsblinde“ wie ich rum, ohne es zu merken. Ein Farbenblinder weiß ja auch nicht von Geburt an, dass er farbenblind ist.

    Die Frage des anonymen Mitschülers aus der Abizeitung „Siehst Du uns eigentlich?“ kann ich also jetzt endlich ein für allemal beantworten:

    Ja, aber ich muss mir mehr Mühe geben euch zu erkennen – und vielleicht will ich das bei manchem auch einfach gar nicht.

  • Endlich allein

    Ich hab da so ’nen Film gesehen. Drei Tage lang. Einen Film, den es noch gar nicht gibt. Einen Film, der nur ca. 15 Minuten lang und wahrscheinlich nie im Fernsehen zu sehen ist. Wie ich dazu gekommen bin, erstaunt mich selbst immer noch ein bisschen.

    Rückblende: Wer sich schon mal auf dieser meiner Seite rumgetrieben hat, der weiß, dass ich da an „so ’nem Projekt“ beteiligt bin. Gesichter Bonns heißt es, ist eine fotografische Idee und Herzensangelegenheit meiner Freundin Bea und macht uns ’ne Menge Spaß. Viel mehr dazu ist an dieser Stelle auch unwichtig. Außer vielleicht dass der Fernseh- und Theaterschauspieler Hanno Friedrich auch Teil des Projektes ist, denn: Er wohnt in Bonn(-Beuel).

    Beim Fotoshoot für das Projekt lernten Bea und ich ihn als netten, bodenständigen und netzwerkfreudigen Menschen kennen, der uns wenig später auch noch den Gefallen tun sollte, eine Bühnenmoderation für Gesichter Bonns im Bonner Haus der Springmaus zu übernehmen.

    Und weil Hanno nicht nur ein netter Kerl, sondern auch ein Macher ist, hat er etwa zu diesem Zeitpunkt angefangen, ein Kurzfilmprojekt zu crowdfunden, oder besser: von der crowd funden zu lassen (KOMMA erfolgreich).

    Bea und ich dachten sofort: Tolle Sache, unterstützen wir! Also wurden wir erst „Filmproduzenten“/“Teilhaber“, in dem wir spendeten und rührten dazu noch im digitalen Freundeskreis kräftig die Werbetrommel für Hannos Filmidee.

    Als dann auch noch ein „Set-Runner“ für den Dreh gesucht wurde, wusste ich zwar nicht, was das überhaupt ist. Weil ich aber irgendwie helfen wollte und außerdem als Videographie-Autodidakt die Chance erkannte, mal bei einer professionellen Filmproduktion dabei sein zu können, schrie ich „Hier!“. Ende Rückblende.

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    Setfoto, Endlich allein – aber wer ist dieser Unbekannte?

    Um mal wieder auf den Film zurückzukommen, der zwar jetzt abgedreht, aber noch lang nicht fertig ist: In ihm geht es um ein Paar, das gemeinsam in den Urlaub fliegen möchte. Sie (gespielt von Saralisa Volm), Karriereweibchen und toughe Businessfrau. Und Er (gespielt von Hanno Friedrich), Lebenskünstler und freiberuflicher sich-durchs-Leben-Wurschtler. Dazu noch der Bürokollege des Karriereweibchens (gespielt von Frank Streffing), der in ihrer Abwesenheit die Agenturgeschäfte weiter führen soll.

    Das Buch stammt von Hanno himself, Regisseur ist Martin Przyborowski.

    Ich will nicht zu viel verraten, aber: Es wird ein subtiler Kurz-Psychothriller mit Anleihen aus dem Horrorfilm und einer interessanten Auflösung bei gleichzeitig offenem, aber nicht grade glücklichem Ende.

    Für mich interessant war bei der ganzen Sache auch weniger das Drehbuch, der Cast oder das Genre des Films (auch wenn ich sicher bin, dass es ein guter Film werden wird!), sondern eher die Gelegenheit, mal bei einem „nicht-journalistischen“ Dreh im Weg stehen dabei sein zu können.

    Zwar hatte ich vor Drehbeginn mal gegoogelt was ein Set-Runner denn so ist, wusste also in etwa, was da so auf mich zukommen würde. Trotzdem war ich natürlich aufgeregt, als es am Sonntag losging. So viele Leute, die ich nicht kannte, auch wenn die Crew inklusive mir mit 13,5 Mitgliedern (Hannos 10-jähriger Sohn durfte die Klappe halten schlagen) noch recht übersichtlich war. So viele Menschen aus der „Filmwelt“, von denen ich nicht wusste, wie sie sich mir gegenüber als Fremden in dieser Welt verhalten würden.

    Um es vorweg zu nehmen: Keiner hat sich mir gegenüber doof verhalten, aber natürlich ist man als Set-Runner eine Art Praktikant und somit Arsch vom Dienst.

    Meine Aufgaben konkret waren:

    • Schauspieler von A nach B fahren (Flughafen, Drehorte etc.)
    • Für Happa-Happa an den Drehorten sorgen (jetzt weiß ich als Nicht-Kaffetrinker auch, wie man mit einer French Press umgeht)
    • Happa-Happa kaufen bzw. beim Caterer abholen (auch von mir noch mal ein dickes Danke an’s Gesindehaus in Bonn-Poppelsdorf)
    • Als Licht-Double zur Verfügung sitzen, stehen, liegen
    • Für Ruhe an den Drehorten sorgen und Schaulustige beim Dreh in Schach halten
    • Kisten, Koffer, Kästen schleppen
    • Glasflächen putzen (kein Scheiß)
    • Aufräumen (ich hoffe, die Jungs und Mädels vom Top Magazin Bonn sind zufrieden mit meiner Wiederherstellung des Drehortes 😀
    • Ab und an mal ne Klappe schlagen
    • Und hauptsächlich: Einfach für alles zur Verfügung stehen

    Insgesamt bedeutet das: Viel warten und da sein. Nicht immer konnte ich mich in diesen drei Tagen nützlich machen, denn das Team war eingespielt und die Sets teilweise sehr eng, so dass ich auch wusste, wann ich mich zurück zu ziehen hatte. Trotzdem war ich natürlich immer da, wenn ich gebraucht wurde und mir auch für keinen Auftrag zu schade. Kurzum: Ich denke, ich habe den Job für einen Anfänger ganz gut gemacht.

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    Sieht nach Polizeiroboter bei der Sprengung eines Gepäckstücks aus – ist aber ne Kamera.

    Dadurch, dass ich während des Drehs meist auf stand-by war, hatte ich oft Gelegenheit mit der Crew zu schnacken. So lernte ich den Tonmann kennen, der bei Stromberg (TV und Film) auch als Nebendarsteller am Start war. Oder den Setfotografen, der extra aus Dortmund angerückt war und genau wie die anderen ohne Gage (was aber für alle vorher klar war) und nur für den „Ruhm“ arbeitete. Oder die Visagistin, die am letzten Drehtag mit ihrer deutschen Dogge „Pepper“ zum Set kam und in die ich mich unsterblich verliebt habe (in die Dogge meine ich jetzt).

    Dauerbeschäftigt waren Schauspieler, Regie, Kameraleute und vor allem die Beleuchter, die Lichtsituationen geschaffen haben, von denen ich als one-man-band Videograph nur feucht träumen kann. Irre, wie da alle Zahnräder des gesamten Teams ineinander gegriffen haben! Und irre, wie lang es beim Film dauert, bis gedreht werden kann und wenige Filmsekunden im Kasten sind (zur Erinnerung: 15 Minuten Kurzfilm, drei Drehtage).

    Für mich als „brotlosen Journalisten“ war es auch nett, mich mit andren Kreativen austauschen zu können, die ebenfalls als Freiberufler ein ähnliches Leben in Freiheit bei gleichzeitiger finanzieller Ungewissheit führen.

    Mein kleiner Ausflug in die Filmwelt war unterm Strich sehr spannend, mit sehr viel Warten und Zeiteinsatz verbunden, hat mir aber auch Kontakte in diverse Filmbereiche beschert – und man weiß ja nie, wofür’s mal gut ist 😉

  • Zeitmaschine

    Die Zeit wird kommen, in der mich mein eigener Nachwuchs fassungslos anstarren wird, nachdem ich ihm mitgeteilt habe, dass ich früher Musik auf CDs und Filme auf DVDs geschaut habe. Für noch irritiertere Blicke wird dann meine Aussage sorgen, nach der ich ganz früher sogar noch Musik auf Kassette abgespielt und aus dem UKW(!)-Radio aufgenommen habe und mich auch noch an eine Zeit erinnern kann, als Texte auf Schreibmaschine (ohne @-Zeichen!) geschrieben wurden und Telefone noch eine Wählscheibe hatten.

    Ich werde mir dann zwar steinalt vorkommen, aber das ist dann halt so. Vielleicht kommt mir die analoge Einöde dann in der Rückschau sogar wie das Paradies vor, wenn ich mit tränenverklärtem Blick an das rauschige Bild einer VHS-Kassette zurückdenke. Gegen technischen Fortschritt ist natürlich generell nichts einzuwenden, aber ich muss schon zugeben, dass Technologiestandards noch nie so kurzlebig waren wie heute.

    So wie meinen ungeborenen Kindern ging es mir neulich auch mal: Davon wie Papa beinahe den Deutschrock erfand habe ich an anderer Stelle zwar schon berichtet. Trotzdem muss ich hier zum allgemeinen Verständnis noch einmal einen Kurzabriss dieser Episode geben: Im Nachlass meines Papas fanden sich einige Tonbänder. Und zwar die „guten alten“ 1/4 Zoll-Rollen, die später durch die etwas handlichere Musikkassette abgelöst wurden. Eine Technik vor meiner Zeit also.

    Auf diesen Bändern fanden sich Aufnahmen von einer Band, in deren Gründungsphase mein alter Herr mitgewirkt hatte. Eine Band aus der Ursuppe des Deutschrocks. Einer Zeit, in der Udo und die Scherben noch mit der Rassel um den Weihnachtsbaum gesprungen sind (um es mal stark verkürzt auf die Spitze zu treiben). „Ihre Kinder“, wie sie sich später nannten, wagten etwas damals sprichwörtlich unerhörtes: Rockmusik mit deutschen Texten. Der ganz große Erfolg und wahrscheinlich auch die nötige Anerkennung blieb der Band verwehrt, auch wenn sie (schon nach dem Ausstieg meines Papas) mehrere LPs (wieder so ein altertümliches Wort!) rausbrachte, um dann später im Streit mit dem Produzenten auseinander zu brechen.

    Papa am Bass
    Papa als 19-Jähriger.

    Mit dem Demotape in den Händen, mit dem die Band später einen Plattenvertrag an Land ziehen sollte, stand ich anfangs etwas hilflos da: Schließlich fehlte mir ein geeignetes Abspielgerät, ganz abgesehen davon, dass ich überhaupt nicht wusste, wie man ein solches Band einlegt, abspielt oder gar flickt. In meinem ersten Forscherdrang, dem der erste Blog-Artikel über die Gründungsphase der „Kinder“ entstammt, war die Beherrschung der altertümlichen Technik aber etwas, das ich getrost vernachlässigen konnte. Schließlich hatte ich einen netten Radiokollegen gefunden, der mir das Band auf hohem technischen Niveau digitalisieren konnte.

    Das Problem damals: Die Bandmaschine des Kollegen konnte die Geschwindigkeit, mit der das Band ursprünglich aufgenommen war, nicht wieder geben. Das Problem habe ich damals in der Nachbearbeitung gelöst. Trotzdem gelang es mit besagtem Gerät nicht, ALLE Demolieder des Bandes hörbar zu machen, weil mein Vater das Band auch mehrfach in diversen Geschwindigkeiten überspielt hatte (ich erspar euch mal technische Details).

    Kurz gesagt: Die Lösung des Problems war der Kauf einer Studer ReVox-Bandmaschine aus den späten 60ern. Ich hatte nämlich neben dem noch nicht ganz ausgereizten Demoband noch einen Haufen weiterer Bänder von Papa geerbt, die ich bis zum jetzigen Zeitpunkt immer noch nicht alle durchhören konnte. Jetzt musste ich mich der alten Technik stellen und zum Glück hatte der ebay-Händler noch eine Kopie der alten Bedienungsanleitung dazugelegt.

    Ich wills gestehen: Ich habe mich vermutlich im Umgang mit den Bändern angestellt wie der sprichwörtlich erste Mensch. So wie ich mich heute über 14-Jährige lustig machen würde, die nix mit einer Telefonwählscheibe anfangen können, hätte ich wohl auf meinen Vater gewirkt, wenn er das Elend hätte mit ansehen müssen. Nach einem ganzen Bandsalatbuffet und mehreren Kilometern von Hand zurück aufgewickeltem Band, weiß ich aber immerhin jetzt wie’s geht.

    Jedes Mal wenn ich die schwergängigen Knöpfe der Bandmaschine drücke, komme ich mir vor, als ob ich eine Zeitmaschine bediene. Denn ich reise tatsächlich zurück in die Jugend meines Vaters, höre was er sich von eigenen Platten oder von Freunden aufgenommen hatte. Vor allem konnte ich aber die Musik, die er als knapp 20-Jähirger selbst gemacht hat, wieder „auf die Bühne bringen“. Ein Stück Auferstehung also.

    Ein Revival vor meinem Ohr feierte zum Beispiel ein fast 50 Jahre alter Sound: Auf einem der Bänder war nämlich ein Mitschnitt eines Auftritts von „Empire State Building“ in Herzo Base aus dem Jahr 1967. Die Band, die da spielte, verdiente sich ihre Kohle sozusagen als Live-Jukebox. Sie spielte Blues-, Rock- und Soulklassiker der Zeit vor amerikanischen Soldaten.

    [soundcloud id=’139525949′]

    Ich kann mir jetzt also die Mukke anhören, mit der mein 19-jähriger Vater vermutlich sein Taschengeld aufgestockt hat. Gleichzeitig kann ich aber auch der Metamorphose einer Band beiwohnen. Und zwar vom Zitieren amerikanischer Tanzmusik-Vorbilder zum Erschaffen eines eigenen, neuen Ausdrucksmittels. Denn aus „Empire State Building“ wurden wenig später „Ihre Kinder“.

    Damals stand die Band vermutlich vor ihrem kreativen Schub, aus dem letztlich der deutschsprachige Rock hervorging. Ich höre also den Übergang vom Imitieren zum Generieren. Spannend!

    Was mir mit meiner „neuen“ Bandmaschine aber auch noch gelang, war das wieder-hörbar-machen von zwei weiteren „Ihre Kinder“-Songs, die es aus dem Demostatus heraus nie zu einer Veröffentlichung geschafft hatten.

    —An dieser Stelle waren die beiden Songs über soundcloud in den Artikel eingebunden—

    Vielleicht wurden diese beiden Songs von der Band oder der Plattenfirma damals verworfen, weil man eine zu große Nähe zum Schlager fürchtete, von dem man sich damals ja gerade absetzen wollte.

    Neben diesen Entdeckungen im Audioformat habe ich aber auch über den ersten Blogartikel zum Thema viele Menschen kennen gelernt, die damals Zeugen der Nürnberger Musikszene oder gar Freunde und Bekannte meines Vaters waren. Menschen, die er als Jugendlicher kannte, die vielleicht sogar zu seinem Freundeskreis gehörten und die er später vermutlich aus den Augen verloren hat. Mit einigen bin ich über die Zeitreisen mit meinem Tonbandgerät in Kontakt gekommen und mit manchen bin ich jetzt sogar bei facebook befreundet oder habe Mails mit ihnen ausgetauscht.

    Und obwohl all diese Menschen – und das meine ich jetzt wirklich liebevoll – alte Säcke sind, komme ich erschreckend oft nicht umhin, sie mir in ihren Zwanzigern vorzustellen. Eben so wie mein Vater sie kannte. Mein Vater, der jetzt auch ein alter Sack wäre. Dann muss ich mich kurz zusammenreißen und mich zwingen, wieder im Jahr 2014 aus meiner Zeitmaschine auszusteigen. Eine Zeit, in der man mit über das Internet gekaufter, 50 Jahre alter Technik in die Vergangenheit eintauchen und über ebendieses Internet mit Menschen aus dieser Zeit kommunizieren kann.

    Meine Kinder werden das sicher bald ganz schön altmodisch finden.

    +++UPDATE 08. April 2014+++

    Nach ursprünglicher Zustimmung hat der Urheber der „Ihre Kinder“-Songs sein Ok für die Veröffentlichung wieder zurückgezogen, weshalb sie hier nicht mehr zu hören sind. Die Tracklist des Demobands sieht wie folgt aus:

    1. Morgens*
    2. Wo gehst Du hin?
    3. Schwarzer Peter
    4. Plastiki und Plastika
    5. Kinderspiel
    6. Schwarzer Engel
    7. Was kann ich denn dafür?*
    8. Madame
    9. Denn er ließ sie einfach steh’n*
    10. Die Da Du, der Flötenspieler
    11. Wenn Liebe das ist
    12. Der Clown
    13. Wenn es sowas auch vielleicht nicht gibt*
    14. Hallo Sie
    15. Der kleine König
    16. Mädchen
    17. Schwarzer Peter (Alternativversion)
    18. Die Da Du, der Flötenspieler (Alternativversion)
    19. Blumenmädchen*
    20. Kinderspiel (Alternativversion)
    21. Wo gehst Du hin? (Alternativversion)
    22. Morgens (Alternativversion)*
    23. Hallo Sie (Alternativversion)
    24. Der Jahrmarkt des Lebens*

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