Schlagwort: Umgangsformen

  • Ein Hoch auf die Spießigkeit!

    In einem schwarzen Fotoalbum mit ’nem silbernen Knopf.
    Bewahr ich alle diese Bilder im Kopf.
    Ich weiß noch damals, als ich jung und wild war im Block.
    Ich bewahr mir diese Bilder im Kopf.

    Sido. War das nicht dieser Typ mit dem Arschficksong? Dieser Typ mit der Maske, der den Weihnachtsmann kalt machen wollte? War das nicht früher mal dieser Typ, den wir beim Radio mit unserem „best(getestet)en Mix“ nie, aber auch wirklich nie gespielt hätten, aus Angst unsere Hörer könnten vorzeitig ableben?

    Verrückte Welt: Plötzlich läuft Sido auch „in Ihrem Lokalradio“ und alle nicken sie mit. Es gibt nur zwei Erklärungen für dieses Wunder:

    1. Rap/Hip-Hop ist gesellschaftsfähig geworden.
    2. Sido ist gesellschaftfähig ein langweiliger Spießer geworden.

    Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Fakt ist: Sido, 32 und mit bürgerlichem Namen Paul Hartmut Würdig geheißen, ist mittlerweile verheiratet und hat ein Kind. Und immer nur den postpubertären Großstadtrüpel zu geben wird ja auf Dauer auch irgendwie langweilig.

    Seltsamer Weise sind mir aus meinem Nebenfachstudium der Germanistik ( = Bücher lesen und drüber quatschen) ein paar Sätze im Gedächtnis geblieben. Sie stammen von Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, der ähnlich wie Sido einen etwas kürzeren Künstlernamen bevorzugte: Novalis. Die Sätze gehen – frei kombiniert – jedenfalls so:

    Vielleicht lieben wir alle in gewissen Jahren Revolutionen […] Aber diese Jahre gehen bei den meisten vorüber.

    Mit der Verheiratung ändert sich das System. Der Verheiratete verlangt Ordnung, Sicherheit und Ruhe […] Er sucht eine echte Monarchie.

    Spießig: Feste Freundin.
    Spießig: Feste Freundin.

    Da ist Oppa Sido nicht weit, wie er mit seiner verblichenen Maske in einer Wohneinrichtung für Senioren sitzt, lauwarme Jacobs Krönung durch die Dritten zieht, seine Stützstrümpfe zurechtrückt und sentimental durch sein Fotoalbum mit ’nem silbernen Knopf blättert: „Früher war alles besser, Kinder. Wir hatten ja nix!“

    Ernsthaft: Sidos Bilder im Kopf (konserviert und archiviert, paraphiert und nummeriert) sind analog! Obwohl Sidos Album einen kecken Hashtag im Titel führt, ist es als Best-Of doch eine Retroperspektive. Heißt: Oppa erzählt vom Krieg.

    Fakt ist: Sido bekennt sich mittlerweile zum Spießertum und fährt gut damit. Das hat er in einem Interview mit der WELT bestätigt, das hat seine Frau in einem Interview mit der WELT bestätigt.

    Und auch ich find’s geil! Ja, wirklich: Mir gefällt der neue Sido. Musikalisch wie inhaltlich. Da zieht jemand Zwischenbilanz und ist im Großen und Ganzen zufrieden mit sich.

    Auch ich bekenne mich öffentlich zum Spießertum! Ich lebe in einer festen Beziehung, koche gerne, mag Gesellschaftsspiele und fühle mich mittlerweile auf WG-Feten deutlich wohler als in Discos/Clubs.

    Als ich neulich mit meiner Freundin beim abendlichen Zappen in eine dieser RTL2-„Dokus“ geraten bin, in der sich eine Horde hormonüberfluteter Hackfressen bei ihren erbarmungswürdigen samstagabendlichen Balzversuchen filmen ließen, war ich schlagartig heilfroh, dass ich in einer spießigen Beziehung lebe und nicht halbbesoffen irgendwelchen aufgetakelten Tussis im Halbdunkel beim in-die-Ohren-Brüllen ins Gesicht spucken muss, weil Usher mit 600 db jeden menschlichen Kommunikationsversuch im Ansatz erstickt.

    Spießig: Kochen.
    Spießig: Kochen.

    Ernsthaft: Hab nie verstanden, warum ausgerechnet die Disco ein Ort sein soll, an den man Menschen kennen lernen kann…

    Danke Sido, dass ausgerechnet Du jetzt der Botschafter für Werte und Spießigkeit bist! Der Airplay-Einsatz im so genannten „Dudelfunk“ erhebt Dich auf eine Stufe mit Reihenhaus, Volvo und Schrebergarten und zeigt auch, dass die Zeit vorbei ist, in der man mit Rap noch provozieren konnte. Gangsta-Rap ist tot, die Fans von einst ziehen ihre Hosen hoch und gründen Familien (in diesem Falle ziehen sie die Hosen wohl noch mal kurz runter) oder erleben schon die erste Scheidung.

    Ich erkenne mich in Dir wieder Sido – und find’s gar nicht mal schlimm.

  • Tote Hose

    Vier Monate war ich ohne Smartphone. Vier Monate, in denen sich mein Alltag entschleunigt hat. Irgendwann im Oktober war mein Androide kaputt gegangen. Kalter Entzug von heute auf morgen. Kein schnelles Nachgucken einer Route bei google maps mehr, kein eiliges Checken des facebook-Status‘ oder des Maileingangs, keine Bilder meiner Nahrung mehr auf instagram, keine kurze Überprüfung belangloser Dinge bei google oder wikipedia. Und: Kein Dauergebimmel in der Hosentasche mehr. Ich muss gestehen: Auf all das zu verzichten, was für mich in den Wochen, Monaten, Jahren zuvor gewohnt und vertraut war – das fiel mir anfangs richtig schwer. Die Funktionen meines Telefons waren plötzlich auf die Grundidee der mobilen Kommunikation reduziert: Anrufen und angerufen werden. Vielleicht hin und wieder eine SMS. Internetfähigkeit besaß mein Ersatzhandy zwar prinzipiell – das Aufrufen von Webseiten und Beschaffen von Informationen geriet mit diesem alten Knochen aber eher zu einer Tortur.

    Anfangs riss ich meiner Freundin unterwegs noch oft das iPhone aus der Hand und loggte mich schnell bei facebook ein, um bloß nichts zu verpassen. Beim gemeinsamen Bier mit Freunden beargwöhnte ich diese neidisch, wenn sie auf ihre Displays starrten. Obwohl ja eigentlich sie es waren, die sich da grade aus der realen Interaktion ausgeloggt hatten, kam ich mir ausgeschlossen vor. Aber nach und nach ließ die Wirkung der Droge Smartphone bei mir nach. Ich entdeckte wie angenehm es war, aus freien Stücken selbst zu entscheiden, wann ich meine Emails lesen wollte. Nicht das Vibrieren in meiner Hosentasche bestimmte den Zeitpunkt des Informationsabrufs, sondern: ICH! Eine verblüffende Erkenntnis. So musste es unseren primitiven Vorfahren im Jahr 2006 ergangen sein!

    Einfach mal abschalten.
    Einfach mal abschalten.

    Versteht mich nicht falsch: Ich finde Smartphones super, bin ein großer Fan dieser Wundertüte mobiler Möglichkeiten. Deshalb habe ich mir nun auch wieder einen neuen Androiden gekauft. Trotzdem sollten wir uns die Souveränität über unseren Alltagsablauf nicht von den Smartphones aus der Hand nehmen lassen! Als ich mein neues Telefon nach vier Monaten ohne Phantomvibration in der Hosentasche schließlich mit meinem google-Account verknüpft, mich in die facebook-App eingeloggt und WhatsApp installiert hatte, fühlte ich mich wie ein Rentner im Computerkurs: Totale Reizüberflutung! Ständig bimmelte und vibrierte meine Neuanschaffung, ständig blinkte irgendeine Benachrichtigung im mir plötzlich dadurch noch riesiger erscheinenden Display auf. Alleine die digitalen Beglückwünschungen zu meinem Geburtstag – mittlerweile schon über zwei Monate alt – lösten ob der schieren zahlenmäßigen Übermacht Stress in mir aus.

    Ich habe aus dieser Erfahrung gelernt. Und zwar folgendes:

    1. Push-Benachrichtigungen sind der Teufel.
    2. Die meisten Mails, die man über den Tag bekommt, sind nicht wichtig. Es schadet nichts, wenn man sie erst dann liest, wenn man Zeit dafür hat.
    3. Man muss nicht permanent über jeden theoretisch möglichen Kanal in Kontakt mit seinen Freunden sein.
    4. Smartphone-Nutzung am Tisch ist unnötig.
    5. Jedes Gerät hat einen Aus-Schalter.

    Es geht also nicht um Verzicht, sondern um gesunden Umgang mit der permanenten Erreich- und Abrufbarkeit. Hieraus ergibt sich folgende Anleitung zum digitalen Fasten, mit der auch Technik-Nerds nicht verhungern müssen:

     Schaltet euer Handy nachts aus!

    Ehrlich. Es ist so banal, dass es schon fast verrückt klingt. Wer Nachts nicht für Freunde oder den Chef erreichbar ist, hat Feierabend. Wir haben alle ein Recht auf Feierabend. Nutzt es! Ich kennen genug Leute, die ihr Handy nachts an haben. Lass euch eins gesagt sein: Es gibt so etwas wie Wecker. Außerhalb des Handys. Wirklich wahr.

    Schaltet Push-Benachrichtigungen ab!

    Nicht jede App, egal ob Nachrichtenseite oder soziales Netzwerk, muss euch mit Gebimmel und Vibrato permanent über jeden Scheiß auf dem Laufenden halten. iPhone-Nutzer haben es hier besonders leicht. In den Einstellungen kann man mit einem Klick Push-Benachrichtigungen für alle Anwendungen abschalten. Der Verzicht mit Android ist da zwar über die jeweiligen Einstellungen jeder einzelnen App komplizierter, lohnt sich aber!

    Richtet euch smartphonefreie Zonen ein!

    Jeder kennt das: Man sitzt mit Freunden beim Bier, einer holt sein Handy raus. Ehe man „HSDPA“ sagen kann erliegen alle anderen am Tisch dem Gruppenzwang und kommentieren genau den facebook-Eintrag, den der Initiator grade gepostet hat – anstatt direkt mit ihm zu reden. Lösungsvorschlag: Einigt euch mit euren Freunden entweder darauf, dass Smartphones bei realen Treffen ganz tabu sind. Oder legt bestimmte Smartphone-Zeiten, wie etwa nach dem Essen, fest.

    Nicht jeder Anruf ist wichtig!

    Lass eure Freizeit nicht dadurch aufweichen, dass ihr einfach zu erreichen seid. Wenn Kollegen oder der Chef nach Dienstschluss anrufen, darf das auch gerne mal überhört werden. Gleiches gilt übrigens auch für jede dienstliche Mail nach Feierabend.

    Urlaub ist Urlaub ist Urlaub!

    Basta! Am besten eine Rufnummer nur dienstlich nutzen und das Handy im Urlaub einfach stilllegen. Dienstliche Mails im Urlaub nicht abrufen. Abwesenheitsbenachrichtigung mit freundlichem Verweis auf die Vertretung wirken wahre Wunder.

    Das alles klingt in der Theorie ganz einfach und zumindest auf der technischen Seite (Push-Benachrichtigungen ausschalten) ist es das auch. Probiert es einfach mal aus. Tote Hose war nie schöner!

  • Ich bin mein Vater!

    Eine der bekanntesten Filmszenen der Kinogeschichte: Luke Skywalker und Darth Vader liefern sich im Reaktorschacht der Wolkenstadt Bespin in „Das Imperium schlägt zurück“ ihr berühmtes Laserschwert-Duell. Vader ist Luke deutlich überlegen, drängt ihn über einem tiefen Abgrund in die Enge und schlägt ihm chirurgisch sauber und verblüffend unblutig (FSK 12!) die Schwerthand ab. Es kommt zum seither oft zitierten „Ich bin Dein Vater!“-Dialog, an dessen Ende Luke sich nach einem verzweifelten „Neeeeeeeein! Nein!“ in die schier endlose Tiefe stürzt und diesen Sturz auch noch wie durch ein Wunder überlebt.

    Das ist auch nötig, damit die beiden sich in „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“, dem großen Finale der Star Wars-Saga, erneut gegenüberstehen können und am Ende das Gute über das Böse siegen kann, was in etwa so aussieht:
    Diesmal ist es Luke der Vader überlegen ist, seinem Vater die mechanische Schwerthand abschlägt und den Kampf mit ihm erst aufgibt, als er seine eigene Handprothese betrachtet und erkennt, dass er auf dem besten Wege ist, so zu werden wie sein alter Herr.

    Was uns der weise George Lucas damit sagen wollte, ist: Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd, wir können nicht aus unserer Haut und dem Fluch unserer Gene nicht entfliehen. Kurz: Ob wir wollen oder nicht – wir werden am Ende alle wie unsere Eltern, respektive: unsere Väter.

    Wattwürmer
    Während Papa schon feiert, warten mein Bruder und ich ganz offensichtlich noch auf den Champagner und die Grid Girls.

    Interessanter Weise erkennt man das aber erst, wenn der eigene Vater nicht mehr ist. Zumindest ging mir das so. Klar: Dass ich die Macksche-Nase von ihm geerbt habe, war mir auch schon bewusst, bevor er vor mittlerweile vier Jahren gestorben war. Trotzdem entdecke ich erst jetzt, wo er nicht mehr da ist, wie viel von meinem Alten tatsächlich in mir steckt.

    Da wäre zum Beispiel die Sache mit den Klebern. Ja, richtig: Kleber. Mein Vater war offensichtlich fest davon überzeugt, dass es für alles im Leben eine Lösung gibt und dass sich deshalb auch alle der Wissenschaft bis dato bekannten Elemente irgendwie wieder zusammenkleben lassen, wenn sie mal auseinanderbrechen. Stummer Zeuge dieser Überzeugung ist die Klebstoff-Box, die seit Jahrzehnten im väterlichen Bastelkeller meines Elternhauses befindlich war und die nun entlarvender Weise ihren Platz im Abstellkämmerlein meiner Wohnung gefunden hat. In dieser Box findet sich der passende Klebstoff für alle möglichen und auch unmöglichen Baustoffe: Holz, Plastik, Metall, Leder, Schaum- und Kunststoffe aller Art oder Glas – vermutlich ist da auch irgendwo ein Kleber, der gespaltene Atome wieder zusammenfügt und auch Oasis wieder zusammen bringen könnte.

    Früher von mir eher belächelt habe ich nun meinerseits Freude an dieser Klebstoff-Sammlung entwickelt. Spätestens seitdem im Badezimmerschränkchen ein Scharnier ausgebrochen war und ich die klaffende Wunde in der Schranktür virtuos mit einer Zwei-Komponenten-Lösung ausbessern konnte, war mir klar: Papa war ein weiser Mann. Papa hatte recht mit seiner ganzheitlichen, auf Klebstoff begründeten Lebensphilosophie!

    Helmtiger
    Damals hielten sich die Ähnlichkeiten – bis auf den Helm – noch in Grenzen.

    Meine mechanische Schwerthandprothese ist allerdings nicht der Kleber, sondern Sägen, verschiedene Bohrköpfe oder Wasserwaagen mit Laserpointern. Wenn ich heute durch einen Baumarkt schlendere, ertappe ich mich nämlich oft genug dabei, wie ich voller Bewunderung verschiedene Werkzeuge daraufhin überprüfe, ob ich sie gebrauchen kann, was ich – falls die Antwort hierauf „nein“ lauten sollte – trotzdem mit ihnen anstellen könnte und wie sie sich in meiner Werkzeugkiste machen würden.

    Eine weiter Sammelleidenschaft meines Vaters neben den Klebstoffen waren nämlich Werkzeuge: Da gab es alles in mindestens dreifacher Ausführung, denn Platz genug war im Keller ja da. Wo andere sich im Baumarkt eine Gehrungssäge geliehen haben, war er quasi selbst der Baumarkt, der alles da hatte – auch wenn er es nur einmal im Leben brauchen sollte (was aber meines Wissens auf kein Werkzeug in seinem Fundus tatsächlich zutraf).

    Auch die alten Witze und albernen Zoten Karl Valentin’scher Prägung, mit denen mein alter Herr Gäste gerne erfreute, damit seiner Familie aber gleichzeitig leicht auf den Nerv fiel, weil wir diese Sprüche schon auswendig kannten und mitsprechen konnten, brechen an geeigneter und völlig ungeeigneter Stelle in meinem Kopf hervor – meist kann ich mir aber gerade noch so verkneifen, die alten Sprüche meines Vater, die er vermutlich schon vom Großvater geerbt hat, aufzuwärmen. Noch.

    Denn mittlerweile habe ich eins erkannt: Ewiges Leben ist möglich! Mein Vater lebt. Durch seine Gene. In mir. Ich selbst bin gespannt, wie viel ähnlicher ich ihm noch werden werde.

    Ich bin mein Vater, Luke!

  • Polnischer Abgang

    Am Wochenende hatten wir Weihnachtsfeier vom Sender. Während des Essens lullte uns unerbittlich seichte Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern des Restaurants ein. Die Woche steckte mir ohnehin schon in den Knochen, die Weihnachtsgans und der Alkohol taten ihr Übriges – mir fielen fast die Augen zu. Mir wurde schlagartig klar, dass ich den Rest des Abends nur unter Zuhilfenahme von viel mehr Alkohol überstehen würde, was sicher negative Auswirkungen auf meine Leistungsfähigkeit am Folgetag hätte. Als sich dann auch noch das Horrorwichteln in unerträgliche Längen zu ziehen drohte, weil selbst der Spielleiter von den eigenen Spielregeln überfordert war, besann ich mich auf ein altes Mack’sches Partymanöver, das ich schon lang nicht mehr angewendet hatte: Den polnischen Abgang.

    Für alle, denen diese Feinheit des gesellschaftlichen Umgangs vielleicht nicht bekannt ist: Mit „polnischer Abgang“ bezeichnet man das unangekündigte Verschwinden von einer Fete, ohne sich vorher zu verabschieden. Eine scheinbar sehr beliebte Form der sozialen Nicht-Interaktion, gibt es doch sogar eine eigene facebook-Fanseite für den polnischen Abgang. Dort heißt es:

    Bedeutet sich heimlich davon zu machen ohne sich von anwesenden Personen verabschieden zu müssen. Die Bezeichnung des polnischen Abgangs leitet sich von der Redewendung „sich davon stehlen“ ab.

    Und:

    Der polnische Abgang zählt zur klassischen Risikosteuerung. Er dient der Schadensbegrenzung beim Clubbing: der Handelnde (temporärer Pole) muss sich aus gesundheitlichen Gründen dem fortgeschrittenen, hedonistischen Treiben kurzfristig entziehen. Die mentale und/oder physische Kraft, andere davon in Kenntnis zu setzen UND gar noch davon zu überzeugen, ihn NICHT von seinen Plänen abzubringen, ist äußerst risikobefangen. Der polnische Abgang ist die einzige sichere Chance, ohne erhebliche Verluste aus der Szene ‚rauszukommen.

    Der polnische Abgang hilft also die Kernproblematik eines jeden Abschieds von einer Feier zu nivellieren: Das lästige „Bleib doch noch!“, „Abknicker!“ und „Warum denn jetzt schon?!“, das einem entgegenschallt, wenn man seinen Entschluss die Festivität zu verlassen versehentlich öffentlich kundtut. Lange Verabschiedungsorgien, die einen gerne schon mal den letzten Nachtbus verpassen lassen, entfallen mit dem polnischen Abgang ebenfalls. Außerdem bleibt man im Gespräch, denn alle werden sich fragen, wo man plötzlich hin ist und sprechen einen garantiert bei nächster Gelegenheit auf das mysteriöse Verschwinden an.

    Hätte beispielsweise der junge, aber offensichtlich als einziger in seinem Freundeskreis berufstätige Partyhengst aus der Nivea-Werbung von den phantastischen Möglichkeiten gewusst, die so ein polnischer Abgang bietet, dann hätte er sich die 8,99 für die reanimierende Gesichtspampe schenken können:

    Interessanter Weise scheint der polnische Abgang innerhalb des gesamten westlichen Abendlandes bekannt zu sein: Selbst urbandictionary.com, das Internetlexikon für englisch-sprachige Slang-Termini kennt den „polish exit„. Hier finden sich auch die sieben goldenen Regeln des perfekten polnischen Abgangs (wobei Regel fünf natürlich streng genommen keine wirkliche Regel ist…):

    1. Be sneaky.
    2. No guilty conscience.
    3. Don’t tell anyone.
    4. Take advantage of the moment.
    5. An anounced polish finish is a czech finish.
    6. Don’t turn around.
    7. Turn off your phone.

    Im altehrwürdigen Oxford Dictionary wird der polish exit allerdings als „french leave“, also „französischer Abgang“ bezeichnet. Hier findet sich übrigens auch der überaus witzige Hinweis, dass der „french leave“ im Französichen als „filer à l’Anglaise„, also „verschwinden im englischen Stil“, bekannt ist.

    Ein perfekter polnischer Abgang ist mir bei der Weihnachtsfeier aber offenbar nicht geglückt: Als ich schon im Treppenhaus auf dem Weg nach unten war hörte ich die schon leicht angeschlagene Stimme eines Kollegen aus der Lautsprecheranlage eine Etage über mir säuseln: „Christian Mack verlässt das Gebäude!“

  • Warum ich Wert auf einen ordentlichen Händedruck lege

    Ich bin nicht der Bundespräsident. Trotzdem bringt es mein Beruf so mit sich, dass ich viele Hände schüttelnmuss. Besonders wenn ich als Reporter unterwegs bin, lerne ich viele Leute kennen. Ich erhalte Einblicke in Lebens-, Arbeits- und Freizeitwelten, die mir sonst verborgen bleiben. Das ist das Schöne an diesem Beruf. Beispiele könnte ich viele aufreihen (ich durfte schon Roboter fernsteuern, eine Straßenbahn fahren, 30 Meter in einem Feuerwehrkorb hinauf schweben, mehr oder weniger interessante Menschen, sogenannte „Stars“ aus Politik und Entertainment treffen…), spare mir das aber vielleicht für einen anderen eitlen Blogeintrag auf.

    © Tobias Wolter

    Vor nicht allzu langer Zeit war ich als Reporter auf einem Termin beim Bonner Ableger einer großen Bundesbehörde. Kein besonderer Termin, eher langweilige Redaktionsroutine. Trotzdem ist mir dieser Termin im Gegensatz zu vielen anderen Pflichtterminen im Kopf geblieben.
    Schuld dran ist die Pressesprecherin. Eine taffe Karrierefrau im Hosenanzug. Typ „Karriere: ja, Kinder: später, vielleicht, mal sehen, zu spät! „. Nennen wir sie einfach pietätvoll Frau K.

    Frau K. hatte die Gesprächsrunde aus Industrie und Wirtschaft absolut im Griff. Sie gab den Ton an. Ist ja auch ok, ist ihr Job. Was aber nicht ok war und meinem Bild des Alpha-Weibchens zuwider lief, dass ich mir so schön zurecht gelegt hatte, war ihr saftloser Begrüßungshändedruck. Sie hielt mir etwas kaltes, lebloses entgegen, was ich erst Sekunden später als Hand identifizieren konnte. Im ersten Moment fühlte es sich eher wie ein welker Romanasaltkopf an, der schon zu lange im Kühlschrank liegt.

    Versteht mich nicht falsch: Ich bin nicht jemand, der mit einem Knigge unter dem Kopfkissen pennt. Trotzdem glaube ich daran, dass ein ordentlicher Händedruck zu einer höflichen Begrüßung dazugehört und etwas aussagt.
    Nehmen wir zum Beispiel meinen Onkle Jochen, der eigentlich gar nicht wirklich mein Onkel ist, sondern über sieben Ecken irgendwie mit mir verwandt: Gibst Du ihm die Hand, erleidest Du Schmerzen. Er bricht Dir fast das Handgelenk, während er Dir langsam aber höflich lächelnd die Hand zerquetscht wie ein Stück jungen Hollandgouda. Er macht das vermutlich, um seine Körperlichkeit zu betonen, denn er ist ein Baum von einem Mann. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er das nur bei mir so macht, oder ob auf diese Art auch zierliche Damen von ihm begrüßt werden. Das würde jedenfalls erklären, warum er alleinstehend ist.

    © Rainer Zenz

    Halten wir fest: Ein Händedruck sollte irgendwo zwischen welkem Salat und gefährlicher Körperverletzung liegen. Fest, aber nicht schmerzhaft, entschlossen, aber höflich.
    Irgendwo habe ich mal gelesen, dass der Händedruck aus einer Zeit stammt, in der wir noch mit Waffen unterwegs waren. Eine Zeit also, die wir zum Glück längst überwunden haben (Ausnahme: Amerika und kleinere Schurkenstaaten).
    Gebe ich Dir folglich meine rechte Hand, kann ich sicher sein, dass Du Schwierigkeiten haben dürftest, mich im selben Augenblick mit Deinem Schwert zu perforieren. Ein Akt, der also friedliche Absicht symbolisiert, es sei denn man trifft zufällig auf einen bewaffneten Linkshänder.
    Mir gefällt die Vorstellung, dass eine Geste, die heute international verständlich ist und als Höflichkeitsform angesehen wird, eigentlich eine reine Selbstschutzmaßnahme ist. Genauso wie das Anstoßen vor dem Trinken: Angeblich nur deshalb entstanden, weil unsere Vorfahren so sicher sein konnten, dass ihr Drink nicht vergiftet ist, weil sich beim kräftigen Zuprosten die Getränke der Anstoßenden durch Überschwappen ineinander mischten.

    Was mir Pressesprecherin Frau K. also damals gezeigt hat, ohne es zu wissen, ist: Mit dieser meiner Salathand wär ich eh nicht in der Lage Dich umzubringen.
    Finde ich unhöflich von ihr.