Schlagwort: Party

  • Ein Hoch auf die Spießigkeit!

    In einem schwarzen Fotoalbum mit ’nem silbernen Knopf.
    Bewahr ich alle diese Bilder im Kopf.
    Ich weiß noch damals, als ich jung und wild war im Block.
    Ich bewahr mir diese Bilder im Kopf.

    Sido. War das nicht dieser Typ mit dem Arschficksong? Dieser Typ mit der Maske, der den Weihnachtsmann kalt machen wollte? War das nicht früher mal dieser Typ, den wir beim Radio mit unserem „best(getestet)en Mix“ nie, aber auch wirklich nie gespielt hätten, aus Angst unsere Hörer könnten vorzeitig ableben?

    Verrückte Welt: Plötzlich läuft Sido auch „in Ihrem Lokalradio“ und alle nicken sie mit. Es gibt nur zwei Erklärungen für dieses Wunder:

    1. Rap/Hip-Hop ist gesellschaftsfähig geworden.
    2. Sido ist gesellschaftfähig ein langweiliger Spießer geworden.

    Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Fakt ist: Sido, 32 und mit bürgerlichem Namen Paul Hartmut Würdig geheißen, ist mittlerweile verheiratet und hat ein Kind. Und immer nur den postpubertären Großstadtrüpel zu geben wird ja auf Dauer auch irgendwie langweilig.

    Seltsamer Weise sind mir aus meinem Nebenfachstudium der Germanistik ( = Bücher lesen und drüber quatschen) ein paar Sätze im Gedächtnis geblieben. Sie stammen von Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, der ähnlich wie Sido einen etwas kürzeren Künstlernamen bevorzugte: Novalis. Die Sätze gehen – frei kombiniert – jedenfalls so:

    Vielleicht lieben wir alle in gewissen Jahren Revolutionen […] Aber diese Jahre gehen bei den meisten vorüber.

    Mit der Verheiratung ändert sich das System. Der Verheiratete verlangt Ordnung, Sicherheit und Ruhe […] Er sucht eine echte Monarchie.

    Spießig: Feste Freundin.
    Spießig: Feste Freundin.

    Da ist Oppa Sido nicht weit, wie er mit seiner verblichenen Maske in einer Wohneinrichtung für Senioren sitzt, lauwarme Jacobs Krönung durch die Dritten zieht, seine Stützstrümpfe zurechtrückt und sentimental durch sein Fotoalbum mit ’nem silbernen Knopf blättert: „Früher war alles besser, Kinder. Wir hatten ja nix!“

    Ernsthaft: Sidos Bilder im Kopf (konserviert und archiviert, paraphiert und nummeriert) sind analog! Obwohl Sidos Album einen kecken Hashtag im Titel führt, ist es als Best-Of doch eine Retroperspektive. Heißt: Oppa erzählt vom Krieg.

    Fakt ist: Sido bekennt sich mittlerweile zum Spießertum und fährt gut damit. Das hat er in einem Interview mit der WELT bestätigt, das hat seine Frau in einem Interview mit der WELT bestätigt.

    Und auch ich find’s geil! Ja, wirklich: Mir gefällt der neue Sido. Musikalisch wie inhaltlich. Da zieht jemand Zwischenbilanz und ist im Großen und Ganzen zufrieden mit sich.

    Auch ich bekenne mich öffentlich zum Spießertum! Ich lebe in einer festen Beziehung, koche gerne, mag Gesellschaftsspiele und fühle mich mittlerweile auf WG-Feten deutlich wohler als in Discos/Clubs.

    Als ich neulich mit meiner Freundin beim abendlichen Zappen in eine dieser RTL2-„Dokus“ geraten bin, in der sich eine Horde hormonüberfluteter Hackfressen bei ihren erbarmungswürdigen samstagabendlichen Balzversuchen filmen ließen, war ich schlagartig heilfroh, dass ich in einer spießigen Beziehung lebe und nicht halbbesoffen irgendwelchen aufgetakelten Tussis im Halbdunkel beim in-die-Ohren-Brüllen ins Gesicht spucken muss, weil Usher mit 600 db jeden menschlichen Kommunikationsversuch im Ansatz erstickt.

    Spießig: Kochen.
    Spießig: Kochen.

    Ernsthaft: Hab nie verstanden, warum ausgerechnet die Disco ein Ort sein soll, an den man Menschen kennen lernen kann…

    Danke Sido, dass ausgerechnet Du jetzt der Botschafter für Werte und Spießigkeit bist! Der Airplay-Einsatz im so genannten „Dudelfunk“ erhebt Dich auf eine Stufe mit Reihenhaus, Volvo und Schrebergarten und zeigt auch, dass die Zeit vorbei ist, in der man mit Rap noch provozieren konnte. Gangsta-Rap ist tot, die Fans von einst ziehen ihre Hosen hoch und gründen Familien (in diesem Falle ziehen sie die Hosen wohl noch mal kurz runter) oder erleben schon die erste Scheidung.

    Ich erkenne mich in Dir wieder Sido – und find’s gar nicht mal schlimm.

  • Polnischer Abgang

    Am Wochenende hatten wir Weihnachtsfeier vom Sender. Während des Essens lullte uns unerbittlich seichte Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern des Restaurants ein. Die Woche steckte mir ohnehin schon in den Knochen, die Weihnachtsgans und der Alkohol taten ihr Übriges – mir fielen fast die Augen zu. Mir wurde schlagartig klar, dass ich den Rest des Abends nur unter Zuhilfenahme von viel mehr Alkohol überstehen würde, was sicher negative Auswirkungen auf meine Leistungsfähigkeit am Folgetag hätte. Als sich dann auch noch das Horrorwichteln in unerträgliche Längen zu ziehen drohte, weil selbst der Spielleiter von den eigenen Spielregeln überfordert war, besann ich mich auf ein altes Mack’sches Partymanöver, das ich schon lang nicht mehr angewendet hatte: Den polnischen Abgang.

    Für alle, denen diese Feinheit des gesellschaftlichen Umgangs vielleicht nicht bekannt ist: Mit „polnischer Abgang“ bezeichnet man das unangekündigte Verschwinden von einer Fete, ohne sich vorher zu verabschieden. Eine scheinbar sehr beliebte Form der sozialen Nicht-Interaktion, gibt es doch sogar eine eigene facebook-Fanseite für den polnischen Abgang. Dort heißt es:

    Bedeutet sich heimlich davon zu machen ohne sich von anwesenden Personen verabschieden zu müssen. Die Bezeichnung des polnischen Abgangs leitet sich von der Redewendung „sich davon stehlen“ ab.

    Und:

    Der polnische Abgang zählt zur klassischen Risikosteuerung. Er dient der Schadensbegrenzung beim Clubbing: der Handelnde (temporärer Pole) muss sich aus gesundheitlichen Gründen dem fortgeschrittenen, hedonistischen Treiben kurzfristig entziehen. Die mentale und/oder physische Kraft, andere davon in Kenntnis zu setzen UND gar noch davon zu überzeugen, ihn NICHT von seinen Plänen abzubringen, ist äußerst risikobefangen. Der polnische Abgang ist die einzige sichere Chance, ohne erhebliche Verluste aus der Szene ‚rauszukommen.

    Der polnische Abgang hilft also die Kernproblematik eines jeden Abschieds von einer Feier zu nivellieren: Das lästige „Bleib doch noch!“, „Abknicker!“ und „Warum denn jetzt schon?!“, das einem entgegenschallt, wenn man seinen Entschluss die Festivität zu verlassen versehentlich öffentlich kundtut. Lange Verabschiedungsorgien, die einen gerne schon mal den letzten Nachtbus verpassen lassen, entfallen mit dem polnischen Abgang ebenfalls. Außerdem bleibt man im Gespräch, denn alle werden sich fragen, wo man plötzlich hin ist und sprechen einen garantiert bei nächster Gelegenheit auf das mysteriöse Verschwinden an.

    Hätte beispielsweise der junge, aber offensichtlich als einziger in seinem Freundeskreis berufstätige Partyhengst aus der Nivea-Werbung von den phantastischen Möglichkeiten gewusst, die so ein polnischer Abgang bietet, dann hätte er sich die 8,99 für die reanimierende Gesichtspampe schenken können:

    Interessanter Weise scheint der polnische Abgang innerhalb des gesamten westlichen Abendlandes bekannt zu sein: Selbst urbandictionary.com, das Internetlexikon für englisch-sprachige Slang-Termini kennt den „polish exit„. Hier finden sich auch die sieben goldenen Regeln des perfekten polnischen Abgangs (wobei Regel fünf natürlich streng genommen keine wirkliche Regel ist…):

    1. Be sneaky.
    2. No guilty conscience.
    3. Don’t tell anyone.
    4. Take advantage of the moment.
    5. An anounced polish finish is a czech finish.
    6. Don’t turn around.
    7. Turn off your phone.

    Im altehrwürdigen Oxford Dictionary wird der polish exit allerdings als „french leave“, also „französischer Abgang“ bezeichnet. Hier findet sich übrigens auch der überaus witzige Hinweis, dass der „french leave“ im Französichen als „filer à l’Anglaise„, also „verschwinden im englischen Stil“, bekannt ist.

    Ein perfekter polnischer Abgang ist mir bei der Weihnachtsfeier aber offenbar nicht geglückt: Als ich schon im Treppenhaus auf dem Weg nach unten war hörte ich die schon leicht angeschlagene Stimme eines Kollegen aus der Lautsprecheranlage eine Etage über mir säuseln: „Christian Mack verlässt das Gebäude!“